Die Last der eigenen Geschichte

Hanau Die Stadt gilt noch immer als Atomdorf der Republik – aber seit einigen Jahren wird versucht, sich als „Grimm-Stadt“ ein neues Image zu verpassen. Die richtige Strategie?

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Hanau gilt immer noch als Atomdorf der Republik, in ständiger Regelmäßigkeit müssen sich die dort politisch Verantwortlichen gegen Pläne zur Wehr setzen, erneut mit dem Thema „Atommüll“ und „Atomtransport“ in Verbindung gebracht werden. Seit einigen Jahren versucht die Stadt, sich als „Grimm-Stadt“ ein neues Image aufzusetzen. Ist diese Abkehr vom belastenden Thema und der radikale Blick nach vorne samt Neuorientierung der richtige Weg? Oder ist eine aktive Auseinandersetzung mit dem negativen Image doch besser?

Schlagzeilen, wie sie Hanau vor 25 Jahren machte, wollen deren Bürger nicht wieder erleben: Machenschaften von Managern und Mitarbeitern der Atomindustrie katapultierten Hanau in den Mittelpunkt des größten Atommüllskandals in der Bundesrepublik. Die Vorgänge, die den äußerst leichtsinnigen Umgang mit hochgiftigen und radioaktiven Stoffen in Hanau offenbarte, konnten nie restlos geklärt werden, die Umstände rund um den damaligen Transnuklear-Skandal blieben teilweise im Verborgenen. Sicher ist, dass die Melange aus Korruption, Filz, Verschleierung und Betrügereien den Anfang vom Ende der Atomwirtschaft in Hanau markierte und Hanau sein "Atomdorf"-Image loswerden wollte und will.

Keine Zukunft mit Atom

In den nachfolgenden Jahren wurde das „Atomdorf“ im Stadtteil „Wolfgang“ schrittweise abgebaut, zudem ging das in den neunziger Jahren für gut eine Milliarde Mark errichtete Siemens-Brennelementewerk zur Produktion von so genannten Mox-Brennelementen schon nicht mehr in Betrieb. Heute stehen auf der einst von der Atomindustrie genutzten Fläche ein Gründerzentrum sowie ein Technologiepark. In einer Halle verweilen noch die Rückstände aus den stillgelegten Hanauer Anlagen bis zur Aufbewahrung in einem Endlager. Dagegen, abermals Ziel von Atomtransporten aus ganz Deutschland zu werden, hat sich die Stadt vor einigen Jahren sowohl rechtlich als auch politisch mit Vehemenz gewehrt – bisher erfolgreich: „Eine Zukunft in dieser Sache darf es in Hanau nicht geben“, wie Oberbürgermeister Claus Kaminsky Anfang 2013 gegenüber dem Hessischen Rundfunk äußerte. Klare Position und Haltung.

In Hanau kam es in den Neunziger Jahren zudem noch zu folgendem Skandal, der zwar inhaltlich nichts mit Atomszenarien zu tun hat, aber auf eine Linie von Korruption und Filz passt: Die ab 1994 amtierende Oberbürgermeisterin Margret Härtel wurde nach Vorwürfen der persönlichen Vorteilsnahme im Amt und der Verwendung öffentlicher Gelder für private Zwecke durch ein Bürgervotum im Mai 2003 mit 89,5 % der abgegebenen Stimmen abgewählt.

Fleißiger Imagewechsel

Zwei Ereignisse, ein erschütterndes Bild mit miserabler Außenwirkung für eine Stadt mit knapp 90.000 Einwohnern. Wie gehen die Verantwortlichen mit so heiklen Episoden in ihrer Geschichte heute um? Gibt es eigentlich Modelle zum Umgang mit negativen Assoziationen dieses Ausmaßes? Ist etwa eine aktive Auseinandersetzung mit dem unerwünschten Image besser oder doch der Weg einer Art Vergessenheit durch radikalen Blick nach vorne samt Neuorientierung?

Die Stadt Hanau war und ist hier sehr fleißig am Werk und plante und praktiziert die Strategie der Umkehr: Gebrüder Grimm-Stadt mit viel Märchen-Spektakel anstelle von ramponiertem Atommüll-Dorf-Image.

Einmal abgesehen von der Frage, was Hanau als Stadt eigentlich dafür kann, dass es Firmen aufgenommen hat oder sich gegen deren Ansiedlung nicht zur Wehr setzte, die zu bundesweiten Skandalen überhaupt fähig sind. Hier spielen also sorgsame Industrieansiedlungsplanungen und eine wertorientierte Standortpolitik eine Rolle und gerade bei der Auswahl eines geeigneten Branchenmix´ sollten Städte und Gemeinden den Chancen auch mögliche Gefahren gegenüberstellen: Wer vor Jahrzehnten irgendwo ein Atomkraftwerk ansiedeln ließ, wusste über die möglichen Bedenken der Bevölkerung, um potentielle Risiken und den Ruin als lebenswerte Stadt für alle Zeiten Bescheid, auch wenn die Stadtkasse profitierte und man durch wirtschaftliche Prosperität auf Kompensationsprozesse setzte, was die eigene Attraktivität anbelangt. Beim Thema Atom scheint dies leicht nachvollziehbar, aber wer denkt beim Anwerben einer modernen Thermoselect-Müllverbrennungsanlage schon an Müllimporte und schlechtere Luftqualität und an eine „Thermodefekt-Anlage“, wie beispielsweise Karlsruhe vor etlichen Jahren bis Mitte der neunziger Jahre erfahren musste – und dies zeigt, wie schwer es ist, thematische Gefahren erkennen zu können.

Maximale Identifikation

Wenn also die eigentlich Verantwortlichen bereits verschwunden oder abgewählt sind und Verschmähungen und Buhrunden ausbleiben müssen, was kann eine Stadt oder Gemeinde tun: In Hanau scheint die bisherige Strategie weg von Atommüll, Korruption und Lüge durchwachsen aufgegangen zu sein, wer sich nicht intensiv damit auseinandersetzt, wird von einer Imagekampagne á la Märchen-Stadt zwar wenig in Erfahrung bringen. Doch der OB-Vertraute und Fachbereichsleiter für Strategie und Bürgerservice der Stadt, Martin Bieberle, sieht eine „maximale Identifikation“ der Bürger mit der Neuausrichtung und dem neuen Image. Bewertungen einmal außer Acht gelassen: Ist das Thema „Märchenstadt“ im Vergleich zur harten und kontroversen Atommüll- bzw. Atomtransportproblematik aber nicht einfach zu weich, da es doch nicht auf der gleichen Rezeptions- und Aufmerksamkeitsebene liegt, ist die Außenwirkung dadurch nicht zwangsläufig geringer und als Ausstrahlungsfaktor keine wirkliche Kompensation zum problematischen Feld?

Selbe Ebene oder Märchenwelt

Was wäre die Alternative? Ein Pendant zu schaffen etwa, ein Thema der gleichen Kategorie, der ebenso tiefen Problematik, ein Feld gleicher Höhe? Oder, was man beispielsweise nach dem 2. Weltkrieg beim Thema Holocaust und KZ-Lager praktizierte, eine aktive Konfrontation mit dem das schlechte Image verursachenden Thema, vielleicht in Form von Gedenkstätten, Ausstellungen oder ähnlichem. Der Vorteil hierbei: Die Auseinandersetzung findet auf derselben Ebene statt, weil es dasselbe Thema zum Inhalt hat, lediglich die Perspektive ist eine andere. Für Hanau könnte dies bedeuten, sich als Stadt aktiv als Gegner des Atoms zu profilieren, oder als Aufklärer von Chancen und Risiken im Bereich der Atomendlagerproblematik aufzustellen – mit Initiativen zum Thema Endlager auf kommunaler, regionaler oder nationaler Ebene, durch Fachkongresse, bei der Forscher und Politiker diskutieren, durch Wissenschaftsförderung zu angrenzenden Themen, durch Einrichten von Gedenkstätten. Kulminiert gefragt: Lässt sich ein großes Feuer mit einer kleinen Packung Eiscreme auslöschen oder doch mit einer speziell dafür aufbereiteten Flüssigkeit? Örtlichkeiten wie Hanau könnten das spüren, auch wenn dort mit viel Tun und Wirken der Wunsch nach einer neuen Märchenwelt entsteht.

Immerhin: In Sachen Abwahl der Oberbürgermeisterin Härtel, die große Gräben in Hanau entstehen ließ und nach Außen das Image Hanaus geschädigt und im Innern den Frieden der Stadt beschädigt hatte, wie selbst die FAZ in einem Beitrag schrieb, entschied man sich zur Lösung des Problems auf gleicher Ebene: Offiziell zelebrierten der neue Oberbürgermeister Kaminsky und Härtel einen medial begleiteten Friedensschluss im Jahr 2005. Das Problem wurde aktiv angegangen und daraus Lösungen entwickelt, nach dem Motto „Hanau zuerst!“.

Artikel aus aktuellem HessenHORN, Ausgabe Juni/Juli, Edition 2013. http://www.hessenhorn.de

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Geschrieben von

Richard Hörner

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