Bevormundung ist ein lukratives Geschäft

Direkte Demokratie Bei "Hart aber fair" wurde gestern die Einführung bundesweiter Volksentscheide zerredet. Aber Kubicki sieht man ja immer gerne. Und die Nüsschen sind alle.

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Oh war das schrecklich. Und anmaßend. Journalistisch schlecht vorbereitet, katastrophal gecastet, ziellos moderiert. Vielleicht war es wie immer, ich erwarte von Talkshows nur selten Erkenntnisse und habe mit ihnen entsprechend wenig Kontakt. Die Frage jedenfalls, ob auch in Deutschland direkte Demokratie auf Bundesebene eingeführt werden sollte, hat die Sendung „Hart aber fair“ am Montag allenfalls karikiert.

Dabei war das Thema einfach und uralt: Es gibt in Deutschland keine Volksentscheide auf Bundesebene, sondern nur alle vier Jahre Bundestagswahlen - obwohl das Grundgesetz in Artikel 20 bekanntlich Abstimmungen vorsieht und dieser Passus auch noch der Ewigkeitsklausel unterliegt, also nicht änderbar ist. Weshalb also haben wir immer noch keine Volksabstimmungen?

Das lässt sich recherchieren. Dazu darf man natürlich nicht nur Profiteure des bisherigen Systems nach ihren Meinungen fragen, man muss schon selber prüfen. Eigentlich Teil des Kleinen Einmaleins im Journalismus.

Es gibt zwei Grundbehauptungen in der Debatte, seit Jahr und Tag unverändert: Die Befürworter von Volksabstimmungen wollen dem Bürger in wichtigen Fragen das letzte Wort geben, die Gegner fürchten Entscheidungen, die irgendwie schlecht „fürs Land“ sind. Da in einer Demokratie die Bevormundung des Souveräns begründungspflichtig ist, müssten also die Blockierer direktdemokratischer Verfahren Überzeugendes auftischen. Da es in der Bundesrepublik keinerlei Erfahrungen mit Volksabstimmungen auf Bundesebene gibt, kann es sich dabei nur um theoretisch hergeleitete Bedenken handeln. Darüber kann man dann hin und her diskutieren, doch ist es einfacher und zielführender, nach den Motiven zu suchen. Und da wird es dünn, denn es bleibt nur die Behauptung, dass es Berufspolitiker mit dem Wohl der Bevölkerung ernster meinen als die Bevölkerung selbst, dass sie uneigennützige, weitsichtige und auch für sie selbst schmerzhafte Entscheidungen treffen und voll verantwortlich tragen. Diese (meist etwas verklausuliert vorgetragene) Behauptung lässt sich sehr einfach als Lachnummer entlarven. Natürlich findet es ein Politiker doof, wenn ihm das Volk in seine Arbeit hineinredet, meint, an seiner statt Gesetze machen zu dürfen und grundlegende Weichen stellen will. Daher liegt die Vermutung nahe, dass nur jene Politiker für Volksabstimmungen sind, die sich davon für ihre ganz persönliche Karriere Vorteile erhoffen. Das hat mit Populismus nichts zu tun, sondern ist schlicht Selbstvermarktung. Politiker sind Ich-AGs, ihre viel gepriesene besondere Kompromisskompetenz ist nichts anderes als die Kunst, taktisch klug Bündnisse einzugehen, die sie weiterbringen. Ich will das nicht weiter ausführen, jedenfalls lässt sich die Situation recht einfach recherchieren - und mit dem Etat einer ARD-Sendung vermutlich auch fernsehgerecht aufbereiten.

Stattdessen: ein „Match“ zweier Berufspolitikern, deren Texte wohl fast jeder Zuschauer selbst hätte vorab aufschreiben können, eine erzkonservative Politikjournalistin der taz, die sich eine Welt anders als ihre tägliche Berufswelt ganz offenkundig nicht vorstellen kann, eine Lobbyistin des Vereins „Mehr Demokratie“, der unter „mehr Demokratie“ ausschließlich die Einführung von Volksentscheiden versteht, und ein ebenfalls leidlich gesichtsbekannter Politikprofessor, der wie so oft bei Geisteswissenschaftlern meist nicht erkennen ließ, was Meinungen und was Fakten sind.

Die Vorgabe des Moderators Frank Plasberg war denkbar günstig: 71% der stimmberechtigten Bevölkerung sind für Volksentscheide auf Bundesebene, hat „infratest dimap“ ermittelt. Bei einer so klaren Mehrheit, die sogar zur Änderung der Verfassung reichen würde, kann sich das Talkinteresse auf eine einzige Frage konzentrieren: Warum verweigert die Politik den Bürgern trotzdem diese Mitbestimmungsmöglichkeit? Beziehungsweise: wie kommt Deutschland zu Volksabstimmungen, wenn Politiker die Einführung verweigern?
Das ist schlechthin die Kernfrage zur deutschen Demokratie. Sie steht seit 67 Jahren unbeantwortet im Raum. Daher wäre es keine Zeitverschwendung gewesen und auch sicherlich nicht langweilig geworden, die 75 Minuten Sendezeit auf dieses eine Problem zu verwenden. Danach wären wir vielleicht wirklich schlauer.

Stattdessen: „was wäre wenn“-Bedenken, konkret: „Was wäre, wenn die Bevölkerung Dinge anders entscheidet, als wir herrschende Klasse es für richtig halten“ - wir, das sind dann nämlich mit den Politikern zusammen die Journalisten und Lobbyisten (selbstredend mit den sie entsendenden Wirtschaftsbetrieben), die drei Berufsgruppen, die prächtig vom derzeitigen System leben.
Natürlich wurden die Bedenken am Dauerbrenner Flüchtlinge festgemacht. Zum einen mit dem redaktionell völlig falschen Vorhalt: „Was wäre, wenn die Bürger sich gegen ein neues Flüchtlingswohnheim aussprechen?“ Ja dann wäre dies zunächst einmal eine sehr besondere Flüchtlingsunterkunft, die der Zuständigkeit des Bundes untersteht und über die direktdemokratisch nur in einem bundesweiten Volksentscheid abgestimmt werden könnte. Oder sollten Frank Plasberg und seine Redaktion ihr eigenes Thema aus den Augen verloren haben? Es ging nicht um kommunale Volksabstimmungen - die gibt es längst und gegen die wollte sich niemand (!) in der Runde aussprechen - es ging um Bundesgesetzgebung durch die Wahlbürger.
Dazu passten dann immerhin die zweiten Flüchtlings-Bedenken: Was wäre, wenn die Bevölkerung für eine Obergrenze stimmen würde, wenn sie in irgendeiner Weise Zuwanderung oder das Asylrecht einschränken würde? Für Wolfgang Kubicki ein klarer Grund, das Volk nicht entscheiden zu lassen, denn am Ende käme da rechtswidriger Kram raus, Deutschland müsste aus der EU austreten und ähnliches. Für Claudine Nierth vom Verein „Mehr Demokratie“ besteht diese Gefahr allerdings nicht, denn die gute alte Verfassung, das Grundgesetz stünde dagegen.

Was ein Schmarrn! Wer hat denn bitte aus den einfachen, unmissverständlichen vier Wörtern des Grundgesetzes („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) ein Monster aus 275 Wörtern gemacht, die allein der Einschränkung des Asylrechts dienen? Es war jedenfalls nicht die rassistische, fremdenfeindliche, egoistische und populistisch verführte Bevölkerung! Es sind doch gerade die Berufspolitiker, die sich ihre eigenen Gesetze machen und auslegen, wie sie es gerade brauchen. Bürgerrechte werden zu potemkinschen Fassaden, von Angriffskrieg bis Totalüberwachung haben uns Politiker alles beschert, was die heilige Verfassung angeblich nicht will.

Es war (natürlich) der Politologe, Werner Patzelt von der Universität Dresden, der die klarste Argumentation beisteuerte - nur rannte er damit bei der Bevölkerung (nicht unbedingt beim Studio-Publikum) offene Türen ein, denn ihr Votum lag ja bereits vor.

Das Establishment hingegen geht einfach davon aus, die Herrschaft durch Berufspolitiker (die stets Mitarbeiter einer Parteifirma sind) sei gottgegeben - oder wenigstens der Weisheit letzter Schluss, in jedem Fall aber das einträglichste Geschäftsmodell, das man der Öffentlichkeit als gemeinnützig verkaufen kann. Beispielhaft dazu aus der Fülle von digitalen Meldungen zweit Äußerungen des Stern-Herausgebers Andreas Petzold. Zum einen schrieb er, die „erfolgreiche repräsentative Demokratie würde ich nicht so einfach mit Volksabstimmungen aushebeln“.
Eingebetteter Medieninhalt

Dieses Urteil dürfte im Politikjournalismus weit verbreitet sein, allein der Maßstab bleibt verborgen: wann ist eine Staatsform „erfolgreich“? (Und ist sie für diesen Erfolg wirklich verantwortlich? So hat die viel besungene lange Friedensphase in Westeuropa auch ein klein wenig mit dem komischen System im Osten zu tun...) Mir jedenfalls fällt eine lange Liste des politischen Versagens ein, das sich unstrittig der herrschenden Politikform zurechnen lässt - und die Politiker selbst werden nicht müde, uns jeden Tag die katastrophale Politik anderer Politiker vorzustellen, die zu korrigieren sie sich aufopferungsvoll anbieten. Und irgendwie glaubt ihnen das der Politikjournalismus auch Tag für Tag aufs Neue, jedenfalls erwecken seine Publikationen diesen Eindruck.

Zum anderen schreibt Petzold mit Bezug auf eine Aussage des Schweizer Politologen Michael Hermann: „Volksabstimmung nützt CSU, AfD, Linke. Was für Kombi...“

Eingebetteter Medieninhalt
Ja was bitte hat Petzold erwartet? Dass eine große Koalition aus CDU-SPD den Volksentscheid braucht, weil sie sich trotz Parlamentsmehrheit ihre politischen Wünsche nicht erfüllen kann? Der Volksentscheid ist ein Korrektiv zur herrschenden Politik, also zwangsläufig zur Parlamentsmehrheit! Aber sie ist kein Instrument, mit der sich eine Minderheit durchsetzen kann (wie es Petzold vielleicht falsch versteht), sondern mit der eine Mehrheit der Abstimmenden die Mehrheit des Parlaments korrigiert bzw. ihr auf die Sprünge hilft.

Es wäre also zu diskutieren gewesen, warum wir trotz des klaren Willens der Bevölkerung keine direkte Demokratie auf Bundesebene bekommen - und was das für die Bürger bedeutet. Das hat Plasberg nicht im Ansatz geleistet.

Erst danach - sofern wir uns nicht als Resultat komplett von der politischen Beteiligung verabschiedet haben sollten, wenn also klar ist, wie wir zur direkten Demokratie kommen -, erst dann wäre es sinnvoll und auch geboten, über Details zu sprechen. Und dann könnte man - wiederum mit etwas Recherche - darauf kommen, dass man die derzeit übliche reine Ja-Nein-Abfrage des Volkes durchaus qualitativ verbessern kann. Und dass es sogar direktdemokratische Modelle gibt, die solche Ja-Nein-Abstimmungen komplett überflüssig machen, weil sie alle erdenkliche Fachkompetenz und die Beteiligung der gesamten Bevölkerung zusammenbringen. Aber bis man darüber auch nur ein paar Sätze ernsthaft wechseln kann, vergeht wohl noch einige Zeit, das hat die Hart-aber-fair-Sendung deutlich gezeigt - eine Sendung übrigens, die zwar viel an Vorbehalten gegen direkte Demokratie vorgetragen hat, aber keinerlei Problem damit hat, nach 75 Minuten Blabla-Inszenierung das größte und wichtigste Thema Deutschlands ad acta zu legen.



Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden