Protest braucht keine Führer

Fridays for Future "Protest- und Bewegungsforscher" Dieter Rucht meint, Fridays for Future brauche gewählte Vertreter. Dabei liegt die Stärke gerade in einer bunten Ideensammlung.

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Der bekannte "Protest- und Bewegungsforscher" Dieter Rucht kritisiert an der "Fridays for Future"-Bewegung laut einem dpa-Bericht, "es fehle dem losen, dezentralen Bündnis an klaren Verantwortlichkeiten und gewählten Delegierten, Entscheidungsabläufe seien auch nach mehreren Monaten des Bestehens 'diffus und intransparent' [...] Solange diese Fragen nicht klar geregelt seien, bleibe es 'ein auf Improvisation beruhendes Zuruf-System', das auf Dauer nicht legitim sei."
Dem ist aus Sicht aleatorischer Demokratie eindeutig zu widersprechen.
Wer etwas kritisiert, muss gerade nicht schon Lösungen präsentieren. Das passiert zwar allenthalben, und gerade Sammelpetitionen leben davon, dass sie eine Einzelkritik mit einer expliziten Forderung verbinden und so ihre Unterstützer an diese binden. Doch um gute Lösungen für erkannte Probleme zu finden, ist dies genau der falsche Ansatz.
Es ist völlig legitim, einen Missstand zu benennen, ohne dies mit der Behauptung zu verbinden, man habe auch schon das Heilmittel dafür gefunden. Gut möglich, dass es viele interessante "Heilmittel" gibt, über die zu diskutieren ist, und auch möglich, dass es noch gar kein probates Mittel gibt oder es zumindest nicht im Bewusstsein ist.
In der Protestbewegung "Fridays for Future" laufen ganz verschiedene Menschen mit, man sieht es deutlich an ihren Transparenten und Parolen. Und auch Menschen mit ausgefeilten Heilmittel-Ideen finden ihren Raum, innerhalb der Protestzüge, aber auch auf den Podien.
Genau eine solche Arbeitsteilung organisiert aleatorische Demokratie - im Gegensatz zu Parteien, die eben jede Problembenennung bereits mit einer Heilmittel-Parole verbinden: der Protest wird ernst genommen und die vorhandenen Ideen zur Problemlösung werden unabhängig, vor allem ohne jeden Eigennutz, recherchiert, erforscht, gesucht. Der dritte Part sind dann ausgeloste Bürger, die beides zusammenbringen: Problembenennung und Lösungsvorschläge. Auch sie ohne das Eigeninteresse von Karriere, Ruhm, Geld, Einfluss - aber eben nicht wie in der Wählerrolle als stummes Stimmvieh, sondern als kommunizierende und denkende Menschen.
Die Wahl oder eine sonstige Form der Kür angeblich legitimierter Sprecher und Entscheider ent-demokratisiert gerade den Basisprotest, weil damit zumindest nach den bisher üblichen Mustern neue Formen von Herrschaft einhergehen - anstatt Formen der Dienstleistung.
Sollte eine Bewegung wie Fridays for Future tatsächlich irgendwelche Entscheidungen brauchen (was ich derzeit nicht sehe), dann müsste gerade bei einer so dispersen, heterogenen Teilnehmerschaft das Los über die Bildung einer arbeitsfähigen Vertreterversammlung entscheiden. Nur so könnte die Vielfalt abgebildet werden, nur so ließe sich neuerlicher Machtmissbrauch verhindern.
Die Gefahr für Fridays for Future ist sicherlich nicht, dass es keine legitimierte Vertretungsstruktur gibt. Die Gefahr besteht viel mehr darin, dass zig Interessensgruppen und Einzelakteure genau solche Vertretungsstrukturen haben und besetzen wollen.
(Timo Rieg)
Quelle Rucht-Kritik:
Rucht ausführlicher zu den Ergebnissen seiner Befragungen der Protestteilnehmer:
Institut für Protest- und Bewegungsforschung:
Fridays for Future. Eine neue Protestgeneration? (pdf)
Ergebnisse einer Befragung von Demonstrierenden am 15. März 2019 in Berlin und Bremen
Zum alternativen Konzept aleatorischer Demokratie:

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