Schluss mit der Naivität!

NSA-Affäre Die gespielte Empörung der Merkel-Regierung ist Kalkül und Ablenkungsmanöver. Der Zweck: die Verwobenheit der eigenen Dienste im Überwachungs-Empire zu verschleiern

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Schluss mit der Naivität!

Seit diesem Sommer ist es amtlich: Der NSA-Überwachungs- kraken hat seine Tentakel über den gesamten Globus gespannt. Auch wenn die Snowden-Leaks der nächsten Wochen und Monate für weitere Überraschungen sorgen werden, reichen die bisherigen Veröffentlichungen, um das transatlantische Verhältnis grundlegend auf den Prüfstand zu stellen.

Doch was machen die politisch Mächtigen? Ignorieren, herunterspielen, und die Freundschaft mit dem großen Bruder betonen. Auch Kanzlerin von #Neuland – und neuerdings auch von #Festnetz – Angela Merkel sowie ihre Kettenhunde Friedrich und Pofalla inszenierten sich als Unwissende und weltfremde Naivlinge, die trotz überwältigender Faktenlage ihren Glauben an die tiefe deutsch-amerikanische “Freundschaft” nicht aufgeben wollen. Wie kann das sein? Spätestens seit #merkelphone weiß man doch: Es geht auch um ihr eigenes Interesse!?

Die Sache mit der Sesamstraße

Man beginnt gar am Verstand der regierenden Elite zu zweifeln, wenn man sich vor Augen hält, welche Konsequenzen sie aus den neuesten Leaks zu ziehen bereit ist: eine abermalige Überprüfung der NSA-Erklärungen der letzten Wochen, die versicherten, kein deutsches Recht gebrochen zu haben (obwohl bereits klar ist, dass diese voll von Falschaussagen sind); die Forderung nach einer (nun erfolgten) Entschuldigung Obamas (nicht etwa nach einem Stopp der Spionage); die Entsendung einer Delegation in die USA, die sich aus den Chefs der Geheimdienste und einem Stellvertreter Pofallas zusammensetzt (also jenen Leuten, die mit der NSA wohlwollend kooperieren und die Öffentlichkeit belogen); und neuerdings die Drohung mit juristischen Schritten durch den Chef-Beschwichtiger Friedrich (als ob nicht schon die Leaks zuvor einen eklantanten Rechtsbruch offenbarten).

Oder ist es, wie bisweilen nahe gelegt wird, die politische Schwäche der Regierung und gar persönliches Angsthasentum einzelner Politiker_innen? Beide Erklärungen greifen zu kurz: Die regierenden Politiker_innen sind nicht dumm, nicht politisch schwach und auch nicht naiv. Naiv sind vielmehr jene Leute, die daran glauben, dass wir von Naiven regiert werden. Schreiberlinge wie Oliver Das Gupta von der SZ beispielsweise, der allen Ernstes von einer 100-prozentigen parlamentarischen Mehrheit für die Wiedereinführung des Postgeheimnisses träumt – auch noch unter den Bedingungen einer großen Koalition -, da die Motivation der Regierung sein könnte, der Bevölkerung zu sagen: “Seht her, wir schützen unsere Bürger”. Nun, wenn dies die Motivation sein könnte, warum ist sie es dann nicht? Statt nach den Interessen und Motiven der Regierung zu fragen, belässt der Journalist es bei einem gut gemeinten Ratschlag an die Herrschenden – als wäre der Staatsapparat eine Art Bürger-Service, den man nur freundlich an seine ‘eigentlichen’ Aufgaben erinnern müsste. Man muss sich fragen, ob der liebe Herr Das Gupta seine politische Bildung aus der Sesamstraße hat, was er mit Ex-Bild-Reporter und neuem SPIEGEL-Vize Nikolaus Blome teilen könnte, der in einer Video-Debatte mit Jakob Augstein partout seinen Kinder-Glauben nicht aufgeben will, der amerikanischen Regierung könne man auch jetzt noch vertrauen, da sie nun mal “unsere Freunde” seien.

Daten aus Gold

Die Sache mit der Sesamstraße könnte zumindest erklären, warum es manche Journalist_innen nicht kapiert haben, dass es sowohl der amerikanischen als auch der deutschen Regierung nicht um den Datenschutz ihrer Bevölkerungen geht, sondern um die Aufrechterhaltung eines Überwachungsapparates, der die Grenzen des Nationalstaates überschreitet. Was in anderen Überwachungs-Debatten als selbstverständlich gilt, wird hier plötzlich ausgespart: Die deutsche Regierung samt ihrer Geheimdienste hat ein ähnliches Interesse daran, mehr und mehr Daten zu sammeln, und zu diesem Zweck kooperieren sie mit und profitieren von der technologisch fortgeschritteren globalen Überwachungs-Architektur der NSA. Warum sollten sie auch nicht kooperieren? Die Informationen, die NSA und BND einsammeln, sind Gold wert für eine Regierung – es sind Daten über die Regierten: ihre Bewegungs- und Konsumprofile, Daten darüber, wer mit wem in Kontakt steht, wie oft und warum, Informationen über unsere Vorstellungen, Bedürfnisse und Ängste, über zivilgesellschaftliche Strukturen, und natürlich über das politische Engagement speziell jener Menschen, die für eine Veränderung des Status quo arbeiten.

Alles Paranoia? Im Gegenteil – die Beweise sind erdrückend: Die langjährige Kooperation zwischen dem BND und der NSA, die laut Whistleblower Edward Snowden “unter einer Decke stecken”; eine Studie des EU-Parlaments, die offenlegt, dass vier von fünf EU-Staaten, darunter die Bundesrepublik, “wide-scale telecommunications surveillance” im Inland betreiben, die nicht allein den Zweck haben, Kriminalität zu bekämpfen, sondern zur effektiveren Kontrolle ihrer Bevölkerungen; das Ausspähen der Handydaten von Demonstrierenden; die Vorratsdatenspeicherung, die vom Bundesverfassungsgericht vorerst kassiert wurde, aber früher oder später kommen wird; der Bundes-Trojaner, mit dem die Strafverfolgungsbehörden und alle, die einen Zugang erhalten, in unseren Computern schnüffeln dürfen. Und so weiter.

Auch die Neuland-Rede Angela Merkels war in diesem Zusammenhang keine schlechte Taktik – alle lachten nur noch über Merkels angebliche Netz-Ferne. Kaum jemand fragte sich noch, wie netz-fern jemand überhaupt sein kann, deren engster Vertrauter mit die größten Cyberspionage-Programme Europas koordiniert.

Der Feind im eigenen Land

Der Kuschel-Kurs der Merkel-Regierung ist kein Zeichen politischer Schwäche oder Naivität, sondern Kalkül. Ebenso ist die “Freundschaft” mit den USA nichts anderes als ein strategischer Pakt zwischen schein-demokratischen Staaten, die einen immer autoritärer werdenden Führungsstil an den Tag legen, Proteste gewaltsam niederschlagen und die basisdemokratischen Bewegungen der letzten Jahre mit allen Mitteln zu verhindern suchen. Denn hier liegt das wirkliche Misstrauen der Regierung: gegenüber der eigenen Bevölkerung und ihrer Macht, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach ihren Bedürfnissen zu gestalten.

Die Frontlinie verläuft nicht zwischen Deutschland und den USA, sondern zwischen Überwachten und Überwachenden: zwischen ‘uns’ und den global operierenden Überwachungsinstitutionen sowie jenen, die ihnen politisch Back-up geben. Die einzig richte Antwort auf den Späh-Skandal ist daher kein Lippenbekenntnis-Vertrag zwischen amerikanischer und deutscher Regierung, sondern ein No-Spy-Abkommen zwischen dem Staatsapparat und der Bevölkerung. Doch das ist von Regierungsseite – wer hätte es gedacht – nicht gewollt. Der Leak, dass Merkels Handy abgehört wird, ist peinlich und eine unangenehme Sache, denn beide Seiten wollen ihr Gesicht wahren, ohne etwas grundsätzlich ändern zu müssen. Die gespielte Empörung der deutschen Regierungseliten, die nun symbolisch einen Gang hochschalten müssen, um ihre öffentliche Glaubwürdigkeit nicht noch weiter zu beschädigen, ist nichts weiter als ein Ablenkungsmanöver. Ihr Zweck: Die Verwobenheit der eigenen Dienste in dem sich entwickelnden globalen Überwachungs-Empire zu verschleiern und eine öffentliche Diskussion darüber zu verhindern, dass man im Grunde genommen auf derselben politischen Linie wie die USA operiert.

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