Auf der Größe eines Rechenschiebers

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Die Sozialpolitik der Koalition gründet auf der Forderung: Arbeit müsse sich wieder lohnen. Die Formulierung ist immer dann zu hören, wenn erneute Kürzungen bei den Sozialleistungen in Rede stehen, wie aktuell. Im Zuge der Sparpolitik, die aufgrund der Bankenrettungen und Konjunkturprogramme als notwendig angesehen wird, soll auch bei Hartz-IV-Empfängern gekürzt werden. Besonders die Streichung des Elterngeldes hat bei der Opposition, den Sozialverbänden und beim Deutschen Gewerkschaftsbund Proteste ausgelöst. Dem politischen Vorgehen liegt ein Gesellschaftsmodell zu Grunde, dass sich bereits seit einigen Jahren andeutet. Zu diesem gehört ein Prekariat, das von Niedriglöhnen oder -honoraren lebt und Sozialleistungen überwiegend zur Aufstockung in Anspruch nimmt. Auf diese Weise lässt sich sogar Vollbeschäftigung anstreben.

Arbeitslosen wieder zu einem aktiven Leben zu verhelfen, ihrer Trost- und Perspektivlosigkeit ein Ende zu bereiten, den Menschen eine Aufgabe zu geben, die sie wieder einbindet, hilft bis zu einem gewissen Grad. Es gab und gibt im Prekariat eine Gruppe von Menschen, die einer solchen Aufmunterung bedarf und dankbar dafür ist, wieder Struktur in ihr Leben zu bekommen. Die Betroffenen bleiben gesellschaftlich dennoch außen vor, weil das gebotene Auskommen nicht reicht, eventuell nicht einmal für eine geheizte Wohnung. Die Maßnahme stabilisiert einen Teil des Prekariats, übergangsweise. Mit einer umfassenden und verantwortungsvollen Sozialpolitik hat dies jedoch wenig zu tun.

Es gelten Marktbedingungen. Ein herkömmlicher Bezug von Sozialleistungen wird zunehmend erschwert. Die mit den Hartz-IV-Reformen ausgegebene Losung, fördern und fordern, dient der Aufnahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Dass für den Großteil der Arbeitslosen reguläre Arbeitsplätze in Frage kommen, ist kaum zu erwarten: Die Jobs sind an Kritierien gebunden, zu denen auch gehört, so kurz wie möglich arbeitslos gewesen zu sein. Der demografische Wandel mildert diese Vorgabe: Arbeitskräfte werden knapp. Ob jedoch auch Langzeitarbeitslose verstärkt in normale Beschäftigungsverhältnisse zurückfinden, ist eher unwahrscheinlich. Um einen hohen Beschäftigungsgrad zu erreichen, werden die Massen gelenkt: Vor allem in Jobs, die bereits wenig nachgefragt werden, auf Verleih beruhen oder im Niedriglohnsektor neu geschaffen werden. Gemeinsam ist ihnen: Sie werden äußerst schlecht bezahlt.

Solange die zentralen Gründe von Arbeitslosigkeit keine angemessene Berücksichtung finden, sollte man sie, auch wenn sie allgemein bekannt sind, wiederholen. Schaut man im Regionalatlas des Statistischen Bundesamtes nach, wo die im Durchschnitt höchste und massenstärkste Arbeitslosigkeit zu finden ist, wird man auf die Neuen Bundesländer (inklusive Berlin) mit ca. 13% und auf das Ruhrgebiet mit ca. 12% verwiesen. Gemeinsam ist beiden Landesteilen ein tiefgreifender Strukturwandel, der auch politisch bedingt ist. Die Vereinigung Deutschlands erfolgte aufgrund einer politischen Entscheidung, keiner ökonomischen. Dass die Wirtschaft der ehemaligen DDR den Prozess nicht überleben würde, war den meisten Fachleuten klar. Ob es jedoch eine ökonomisch bessere Lösung gegeben hätte, ist offen, ebenso die Frage, ob es im Rahmen eines Rettungsversuchs noch zu einer politischen Einheit hätte kommen können. Im Ruhrgebiet hatte man in der Zeit von Kohle und Stahl versäumt, einen starken und unabhängigen Mittelstand entstehen zu lassen, der den ökonomischen Niedergang hätte abfedern können. Der vorhandene Mittelstand war nicht bloß schwach ausgeprägt, sondern auch einseitig auf die Großindustrie bezogen. Heute steht im Rahmen eines Kompetenzfeldmarketings wieder die Großindustrie im Zentrum: Der Regionalverband konzentiert sich im besonderen Maß auf die Branchen Logistik, Energie und Chemie, ebenso auf die Gesundheitswirtschaft, die Kliniken der Region. Eine regionale Politik fehlt. Das Strategiekonzept des Initiativkreises Ruhrgebiet (Ruhr.2030) verdeutlicht im Abgleich, wer das Sagen hat: die Konzerne.

Marktbedingungen zur Schaffung prekärer Beschäftigungsverhältnisse in Anschlag zu bringen, verschweigt die Kausalität von Ereignissen und mögliche Konsequenzen. Es wird so getan, als gäbe es in Deutschland einen Markt, der nicht auch politisch bedingt wäre. Das aktiv forcierte Gesellschaftsmodell schützt vor allem den gehobenen Mittelstand und die Oberschicht, reißt systematisch und strategisch eine Kluft zum gefährdeten Mittelstand und Prekariat auf. Diese Tendenz ist nicht bloß politisch bedingt, sondern auch ökonomisch erwünscht. Ein gesellschaftliches Gemeinwohl, mit diesem eine bindende Ideen über ein Zusammenleben der Menschen, heute und in Zukunft, gibt es nicht mehr. Es bleiben nur ökonomische Variablen übrig - und der Schutz der Kräfte, die aus wirtschaftlicher Sicht in der Spitze systemerhaltend sind. Sich wie die Koalition im politischen Alltag auf das Wohl von Banken, Energiekonzernen und weiteren Wirtschaftsmächten zu konzentrieren, schamlos Klientelpolitik zu betreiben, die sogar an der mittelständischen Wirtschaft vorbei läuft, macht die Dreistigkeit überdeutlich.

Im Vorfeld der Hartz-IV-Reformen hatten führende SPD-Politiker mit einer populistisch vorgetragenen Stigmatisierung von Arbeitslosen begonnen. Die Boulevardmedien stiegen dankbar auf die Hetzkampagne ein und präsentierten einzelne Exemplare, die nicht ahnten, wie ihnen geschah. Albrecht Müller wies bereits 2004 (in: Die Reformlüge) darauf hin, dass der Bertelsmann-Konzern und seine Stiftung hinter der sonderbar anmutenden Kampagne und Politik stand. Was zu jener Zeit kaum jemand glauben wollte, hat Thomas Schuler kürzlich bestätigt (in: Die Bertelmann-Republik Deutschland). Anstatt die Überwindung der tiefgreifenden Strukturkrisen als gesellschaftliche Aufgabe anzuerkennen, stellten Politik und Wirtschaft einen Niedriglohnsektor bereit, in den man die Stigmatierten weisen konnte. Die Kosten waren nicht durch die Sozialsysteme, sondern durch die Deutsche Einheit entstanden. Durch die Plünderung der Kassen entzog man sich einer Offenlegung des tatsächlichen Aufwands und der Frage, wie die Lasten besser zu verteilen seien. Die Kosten den Arbeitslosen in die Schuhe zu schieben, war ein Coup im ursprünglichen Sinn gewesen: Man hatte die Wehrlosen bei lebendigem Leibe skalpiert. Die Fortführung der Bertelsmannpolitik durch konservative und liberale Kräfte reiht sich in die jüngsten Deals der Koalition mit Konzernen ein.

Der inzwischen zu spürende Wirtschaftsaufschwung wird nicht allen zugute kommen. Ein Ziel, die gesellschaftliche Spaltung zu verringern, gibt es nicht. Die Aussicht, die Anzahl von Arbeitslosen bald unter drei Millionen Menschen drücken zu können, die in Politik und Wirtschaft bekundete Freude über nachhaltig wirkende Sozialreformen, reduziert die herrschende Politik auf die Größe eines Rechenschiebers. Das ist das Programm der Konzerne. Fehlen in der Politik Ideen, besteht aber die Gefahr, dass radikale Ideologien, so abstrus sie auch sein mögen, verstärkt nachgefragt werden. Rechenschieber haben dafür kein Maß. Es bleibt zu hoffen, dass die Bürger besonnen bleiben und eine Politik einfordern, die das Gemeinwohl wieder ins Auge fasst. Die am 18.09.2010 in Berlin begonnenen öffentlichen Proteste gegen die Kungelei mit den Energiekonzernen zeigen einen Weg. Benötig wird aber nicht nur eine singuläre Korrektur, sondern ein gesellschaftspolitischer Neuanfang, mit dem die relevanten geschichtlichen Ereignisse konstruktiv einbezogen werden. Die politische Klasse steht zur Disposition: Sie hat angesichts der durch Konzerne gemachten Politik ihr steuerlich unterfüttertes Dasein zu begründen und Konzepte zu entwickeln, die eine verlorengegangene Glaubwürdigkeit vielleicht wieder ermöglichen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

R.M.

Anmerkungen über Politik und 'Kultur'.

R.M.

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden