Die Tragödie der Kultur

Blinde Projektion Unser umgangssprachliches Kulturkonzept ist nicht einmal auf der Höhe unserer Zeit!

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http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/b/ba/Parthenon.jpg/1280px-Parthenon.jpgEs ist ungewöhnlich in Deutschland über Bezüge von Worten zu sprechen, in der Regel wird über Bedeutungen gesprochen, gegebenenfalls Definition abgefragt oder angefertigt, letzteres besonders seit den Universitätsreformen, die dazu dienten und weiterhin dienen, in relativ kurzer Zeit sogenanntes Wissen zu vermitteln, das praktisch, für einen Job nutzbar ist.
Diese besondere Verhaltensweise, Bezüge außer Acht zu lassen, sich lediglich mit Bedeutungen und Definitionen zu beschäften, auch wenn definitorische Abgrenzungsfragen stets auch Bezugsumfänge relevant werden lassen, macht es leicht, die Frage zu übergehen, ob es dasjenige überhaupt gibt, worüber der verlauteten Anstrengung nach gesprochen wird.
Ich möchte keine allgemeine Diskussion über Scheinprobleme aufleben lassen, die Ende der Zwanziger Jahre von Carnap initiert wurde und die Frage nach Möglichkeiten, empirischen als auch logischen, vermissen ließ, sondern konkret werden, über Worte Kultur sprechen, die sich in Deutschland im Laufe der Geschichte eingebürgert haben, als sei klar, worauf sie sich jeweils beziehen. Doch ist dies wirklich so? Es kann durchaus der Fall eintreten, dass ein Sprecher auf Nachfrage nichts anderes zu betonen weiß, als ‚das sei doch jedem klar‘.
Zunächst ist hervorzuheben, dass es historisch unterschiedliche Worte Kultur bzw. Kult gibt, und dass ihre Abkunft dem Lateinischen und dessen Überlieferung zu verdanken ist. Sie waren zunächst auf Landwirtschaft und religiöse Praktiken beschränkt, bezogen sich auf die Verfahren und Techniken, mit denen eine Ernte der damaligen Ansicht nach optimiert werden konnte. Kultur und Kulte waren eine bäuerliche Angelegenheit, die Verfeinerungen beim Anbau erbrachte und göttliche Unterstützungen erforderte.
Das Altgriechische verfügt über keine vergleichbaren, relativ allgemeinen Vokabeln. Dieser Einbezug des Altgriechischen ist relevant, um den Blick von den lateinischen Buchstaben lösen zu helfen, ohne gleich als Barbar gelten zu können. Über eine Altgriechische Kultur zu reden, käme ohne eine zu rechtfertigende Übertragung nicht aus. Dass eine solche Rechtfertigung gelingen könnte, ist jedoch sehr unwahrscheinlich, ohne sprachliche Grundlage. Aus diesem Grund wählte ich den Titel „Die Tragödie der Kultur“, denn eine solche entstünde durch eine blinde Projektion.
Cicero fügte im Lateinischen eine Metapher hinzu, cultura animi, die den Geist mit einem Acker verglich und besonders in Fragen der Erziehung und ihrer Unterstützung aus der stoischen Philosophie von Relevanz war. Im nachfolgenden Christentum wurde Gott bildlich zu dem Ackersmann (Augustinus), der den menschlichen Geist zu formen hatte; an den Bezug eines Wortes cultura auf den Gartenbau und die bäuerliche Arbeit wurde aber nicht verzichtet.

Die lateinische Kultur kann, dem überwiegenden gesellschaftlichen Sprachgebrauch nach, allenfalls landwirtschaftlich relevante Praktiken, religiöse inbegriffen, und metaphorisch erzieherische Maßnahmen umfassen. Sogar eine Übertragung von allgemeinen Worten Kultur, die erst seit dem Dreißigjährigen Krieg im zerstrittenen Europa gebildet wurden, und eine Wiederauflebung durch die neuere Kulturwissenschaft erfuhren, wäre aus historischer Sicht nicht zu rechtfertigen. Erst wenn man ahistorisch, ohne Rücksicht auf die Empirie, in simpler Weise definitorisch, in einem Akt diktatorischer Freiheit bekennt, dass nur eine Kultur zählt, für alle und ewig, käme man zu Worten, die durch die neuere Kulturwissenschaft vertreten werden: alles umfassen, was von Menschen je angestellt wurde. Die Vorgehensweise, die sich bereits seit der Wilhelminischen Zeit auch in anderen Wissenschaften, z.B. der Archäologie, durchsetze, um alte Kulturen, sogar Hochkulturen vorfinden zu können, anstatt einfach über Hinterlassenschaften alter Gesellschaften zu sprechen, ist ähnlich der Übertragung von Ansätzen westlicher Theologie oder Naturphilosophie auf einfache Gesellschaften, wie sie von Missionaren und Ethnografen im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert betrieben wurde, von wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.
Kultur war, soweit die Überlieferungen tragen, von Beginn an ein umgangsprachliches Konzept, etwas, das selten zu beobachten ist, zunächst ein speziell lateinisches, dann ein christliches, seit der Frühaufkärung wird nach einem philosophisch wissenschaftlichem gerungen, ohne dessen Geschichtlichkeit zu berücksichtigen, die Vermessenheit wahrzunehmen, mit der etwas verallgemeinert wird, das sich nicht einmal systematisch von der übrigen Tierwelt abgrenzen lässt. Pufendorf führte im Dreißigjährigen Krieg noch mahnend eine Befähigung zur Vernunft als Abgrenzungskriterium an, heute wird nicht selten auf die Weitergabe von menschlichen Verhaltensweisen und Produkten verwiesen. Das Wissen um die übrige Tierwelt ist immer noch erstaunlich gering, doch dass sich eine Reihe von Tieren in Spiegeln erkennen, dass sie nicht einfach nur Instinktautomaten sind, sondern dass einige ihren Jungen etwas beibringen, dass sie kommunizieren, all dies lässt grundlegende Unterschiede zu Menschen verschwinden, lediglich graduelle zu. Menschen sind, so ließe sich testweise vermuten, reichlich egozentrische Primaten. Auch Philosophie und Wissenschaften wären als soziale Bereiche davon nicht ausgenommen.

Unter solchen Bedingungen löst sich Kultur schlicht auf. Es gibt sie nicht, allenfalls als Fantasieprodukt. Etwas, dass Cassirer noch als menschlich kulturelle Errungenschaft ansah, sich selber zu bespiegeln, macht letztlich die Schwäche aus, der man sich besonders in Deutschland hingab, und zwar in besonderer Weise: Es wird projiziert! Besonders leicht ist dies z.B. im Hinblick auf Shakespears Werken zu beobachten: Eine akademische Frage nach Natur und Kultur z.B. in Bezug auf Stücke kann nur fehlgehen, wenn zwar Worte nature vorkommen, culture jedoch nicht. Es ließe sich allenfalls die heutige deutsche Umgangssprache anführen, doch mit welcher Relevanz? In der Renaissance gab es noch keine Worte Kultur, die den heutigen auch nur nahe kommen könnten.
Den Haupteinträgen des redaktionell betreuten Duden nach würde sich Kultur auf menschliche Aktivitäten und Eingriffe, Natur hingegen auf von Menschen weitgehend Unberührtes beziehen. Aus naturwissenschaftlicher Sicht wäre eine solche Ansicht unhaltbar. Ohne moderne Ärzte und Ingenieure, die naturwissenschaftlich ausgebildet wurden, hätte die Menschheit eventuell nicht einmal überlebt. Unser umgangssprachliches Kulturkonzept ist nicht auf der Höhe unserer Zeit!


Weiterführende Literatur:

• Ammern, Mark, 2014, Siechenhaus. Prosa, Duisburg.
• Matern, Reinhard, 2013, Zweifel an der Kultur. Essayistische Notizen, Duisburg.
• Pege, Kai, 2015, Eine Theorie des selektiven Bezugs, Duisburg. [Ein sprachphilosophischer Essay]

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Geschrieben von

R.M.

Anmerkungen über Politik und 'Kultur'.

R.M.

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