Gehören Geschichten nicht zum Alltag, zu Treffen in Cafés, auf Treppenabsätzen von Wohnungsnachbarn? Und sie bleiben häufig indifferent: Ob Ereignis oder Sprachliches, wichtig ist, dass sie nach was riechen!
Zu dieser Indifferenz gegenüber Worten ‘Geschichte’ kann eine weitere kommen: gegenüber fiktiven und nicht-fiktiven Ereignissen. In Katja Petrowskajas “Vielleicht Esther” richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Familiengeschichte, den Tod der Urgroßmutter unter den in Kiew einmaschierten Deutschen. Der Erzählerin sind die Unsicherheiten bewusst, die mit einem mündlichen Weitertragen, einem Erinnern und eventuellem Vergessen von damaligen konkreten Umständen zusammenhängen. Der Vater entsann sich nicht an den Vornamen seiner Großmutter, äußerte “vielleicht Esther”. Genannt hatte er sie Babuschka.
Während die Deutschen nach Juden suchten, war von den Angehörigen, außer ‘Vielleicht Esther’, niemand mehr in Kiew. Sie hatten die Babuschka “für einen Sommer” zurückgelassen. Das geschilderte Verhalten der Urgroßmutter und die konkreten Umstände ihres Todes sind fiktiv. Ein gesonderter Hinweis darauf wäre überflüssig gewesen. Sie stehen aber im Einklang mit möglichen Geschehnissen. Sind auf erschreckend nüchterne Weise plausibel.
Diese Verzahnung von erzählerischer Wirklichkeit und Fiktion ist sprachlich in sensibler Weise vollzogen worden. Dass der Beitrag den ersten Preis des Wettbewerbs erhalten hat, muss nicht wundern.
Angesichts dieser Arbeit von Katja Petrowskaja, stellt sich die Frage nach Geschichten nicht vielleicht anders als bislang in dieser Diskussion? Sind Geschichten, ob als Ereignisse oder Äußerungen, nicht eine Voraussetzung für die literarische Arbeit, ein Material? Primär an Sprache und Form Interesse zu haben, Matern, schließt dies nicht Verarbeitungsweisen und -möglichkeiten ein?
Auch würde ich aus ‘empirisch möglich’ oder nicht keine Grundsatzfrage machen. Es hängt nach meinem Ermessen vom Kontext ab. Beschreibt man alternative Handlungsverläufe, wie ich es im Papageno tat, so als würden sie sich auf einer Zeitlinie ineinander verschränken, dann muss aus der Erzählperspektive eine logische Unmöglichkeit konstatiert werden, doch ebenfalls in Abhängigkeit, nicht per se. Die Herstellung eines solchen erzählerischen Konstruktes ist hingegen nicht nur empirisch möglich, es liegt vor.
Ich hoffe, dass Ihr nicht nur als Sprach-Gamer glänzen wollt!
[Beantwortet durch: Kopfsprung, oder?]
Kommentare 4
{Die Herstellung eines solchen erzählerischen Konstruktes ist hingegen nicht nur empirisch möglich, es liegt vor.}
„Es liegt vor“, aber es ist nicht determiniert. Die „empirische Möglichkeit“ ist nur deshalb als Geschichte erzählenswert, weil der Erzählende darin klingendes Zeugnis ablegt, wie sich das Leben aus sich selbst heraus intuiert und in der Wahrnehmung Selbstbewusstsein erschafft.
Deshalb unterschieden sich gute von schlechten Geschichten ja auch durch den Grad ihrer metaphysischen Durchlässigkeit.
Sorry, mit einer solchen Metaphysik kann ich nicht dienen, zumal sie mir gar nichts sagt. Die Anzahl an empirisch möglichen Ereignissen ist weitaus größer, als die der empirischen, umfasst auch fiktive. Solche lassen Vergleiche mit empirischen Vorgängen zu - doch daraus eine deutende Metaphysik zu stricken, widerstrebt mir. Sie fügte lediglich etwas Dichtung hinzu ;-)
Ach je, Klagenfurt. Morgen läuft in den Kinos Adieu Paris an: Die junge Autorin Franziska ist in Aufruhr. Ihr französischer Geliebter liegt nach einem Unfall in einem Pariser Krankenhaus im Koma. Jetzt steht sie in Düsseldorf am Check-in-Schalter, und weil sie nicht bar zahlen kann, leiht ihr freundlicherweise der hinter ihr wartende Bankier das Geld fürs Ticket. In Paris trifft sie am Krankenbett auf die Ehefrau ihres Geliebten ...
Der Film geht in dieser Weise weiter. Also bitte kein Geld dafür ausgeben. Noch der Hinweis, daß auch der beim Freitag als Film der Woche empfohlene Fliegende Liebende ein grottenschlechtes Produkt ist, aber man meint wohl, dem Publikum das zumuten zu müssen.
Adieu Paris offenbart völlig unbeabsichtigt, auf welchem Niveau Literaten und Literatur gegenwärtig siedeln. Die junge Autorin gewinnt nach ca 65 Filmminuten den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Danke für die Hinweise. Wenn man als junger Literat lediglich die eng gewordenen Grenzen des Buchmarktes als anerkanntes Betätigungsfeld vorgesetzt bekommt, die Gate-Keeper-Funktionen von Literaturkritik und Verlagen schon lange nichts mehr mit Literatur zu tun haben, bleibt eine solche Entwicklung nicht aus ;-) Die jungen Leute sind literarisch viel zu brav!