Ins Vergebliche rinnen lassen, oder?

Literaturkritik ... mit einem Seitenblick auf “Ostrov Mogila” und die Verisse

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Ich freue mich, dass wir die Geschichten nach meinen Zweifeln endlich los sind. Auch das öffentliche Gerede über sie. Vielleicht ist es unmissverständlicher, Talmi , schlicht in sprachliche und nicht-sprachliche Ereignisse zu differenzieren, Geschichten als sprachliche zu fassen, die, wie Ammern hervorhob, alltäglich sind, ob als Idee, als aufgeschriebene und abgelegte Notiz oder als Treppenwitz … Sprachliche Verhaltensweisen lassen sich kausal betrachten, physikalisch, sozial. Der Unterschied wird deutlicher, wenn wir die Sprache in das Zentrum rücken, die Bedeutungen, Bezüge, die Logik. Im Umgang werden nicht nur Sprachliches und Nicht-Sprachliches verwechselt, wie bei Geschichten, ebenfalls Kausalität und Logik. Sogar innerhalb der Wissenschaften! Wie häufig las ich von einer Logik des öffentlichen Handelns, bestenfalls eine Metapher. Aber dieser Vorschlag betrifft nur die interne Konvention.

Mit dem Kopfsprung hast Du ein mögliches Desaster einbezogen. Nach Ammerns Erörterung des preisgekrönten Textes, wie wäre es mit einem Blick auf Verrisse? Anführbar sind vor allem Texte, die sich mit ungewöhnlichen Ereignissen und Erzählhaltungen beschäftigen: anführbar ist z.B. “Ostrov Mogila” (Cordula Simon). Literaturkritikern etwas vorzusetzen, das sie kaum, allenfalls vom Hören und Sagen, oder gar nicht kennen, birgt die Gefahr, ihre Kompetenz ins Vergebliche rinnen zu lassen, eventuell fühlen sich manche sogar angegriffen, sehen sich und ihre errungene Position in Frage gestellt, oder fühlen sich beleidigt? Es wäre jedoch unangebracht, generell solche blinden Reaktionen zu befürchten. Die Alternative, auf ein Urteil zu verzichten, bestände ja durchaus. Schließlich: unabhängig von der Gefahr wäre es gleichfalls möglich, dass die Verrisse plausibel sind. Auch Ungewöhnliches kann misslingen.

In Cordula Simons “Ostrov Mogila” wird aus der Erinnerung einer Ich-Erzählerin eine Kindheit auf dem Land geschildert, über die ein schwerer Dunst aus Stall- und Küchendünsten zu liegen scheint. Die beschriebenen Menschen, vor allem die Mutter, die Großmutter und die Urgroßmutter, leben in einer Welt aus Küchenabfällen, Kakerlaken und Schweinen - und aus Prophezeihungen und bösen Blicken. Der Tod des Großvaters wurde wie selbstverständlich der Urgroßmutter untergeschoben. Der Versuch der Heranwachsenden, den Hof zu verlassen, scheiterte, weil der Fahrer, der sie mitnehmen wollte, nicht eintraf.
Die Sprache ist durch viele Und-Verknüpfungen geprägt, dehnt sich der Erzählerin nach wie der Sprachrhythmus der Urgroßmutter, die auf dem Hof dominierte. Zu Beginn wirkte der Text auf mich etwas holprig. Satzanfänge durch ‘trotzdem’ und ‘dennoch’, deren relationale Funktion eher schwebend als deutlich sind, können einen Zugang erschweren. Sieht man davon ab, ist die ländlich düstere Idylle sensibel eingefangen worden. Ich hatte den Eindruck, eine einfache aber bedrückende Milieuschilderung über einen ländlichen Flecken zu lesen, in dem sich so gut wie nichts entwickelt hat, aus dem auch nur schwer zu entkommen ist. Vermutlich gibt es noch einige solcher rückständigen Gebiete, auch in Europa. In den Verrissen war von einem vermeintlichen Märchen die Rede, ebenfalls davon, dass zur Welt der Magie die magische Sprache fehle. --

[Als Antwort auf: "Kopfsprung, oder?"]
[Beantwortet durch: "Die sprachliche Kunst wäre tot, oder?"

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Geschrieben von

R.M.

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R.M.

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