Kann man Aspekte essen?

Kritik Glaubt man zeitgenössischen Sach- und Fachautoren, dann ist die erfassbare Welt voller Aspekte. …

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… Sie tauchen als politische, juristische, ökonomische Aspekte, ja sogar als Beziehungsaspekte auf. Offen bleibt jedoch stets, um was es sich handelt. Dieser eklatante Mangel lässt nicht nur an einem fachlichen Niveau der Begriffe zweifeln.

Dem hohen Verbreitungsgrad nach müssten Aspekte sogar in Wohnküchen vorkommen können. Von alters her sind Worte aspectus verbürgt, auch im Küchenlatein. Ich liebe großzügige Wohnküchen. Sie laden viel eher zum Verweilen ein, als die Schlafwagenatmosphäre der Wohnlandschaften. An meinem Tisch kann man bequem aufrecht sitzen, Gemüse pulen, Fische filetieren und bei Kaffee oder Tee einfach reden. So über Aspekte, um sie, falls dazu geraten werden kann, anschließend in der Pfanne bruzzeln zu lassen, bevor sie anfangen zu faulen und widerlich zu stinken. Sind das nicht außergewöhnlich kurze Wege?

Rasch sah ich jedoch die Schwierigkeit, angemessene Übersetzungen der vielen Worte Aspekt zu finden. Die bezeichneten Sachen, obgleich sie symbolisch in einer gläsernen Schüssel gelandet waren, blieben undeutlich, irgendwie ver- oder aufgequollen, so als enthielten sie ein mir unbekanntes Treibmittel. Eine Gestalt hätte man nicht in Abrede stellen können, doch irgendeine Gestalt zu haben, sagt wenig, eigentlich gar nichts aus. Mal hätte man vielleicht von einem Kriterium sprechen können, mal eventuell von einem Thema oder Unterthema, mal von einem Merkmal oder von einem Haufen von Haufen von Daten, oder so. Die sprachliche Auszeichnung, Aspekt zu sein, passte ganz und gar nicht zu diesem sonderbaren Wust.

In den Achtzigern waren noch Punkte sehr beliebt. Sie hätten - munkelte ich während meines Studiums - von den Krawatten oder Kleidern stammen können, oder von den Tapeten der Arbeitszimmer. Möglich wären auch halluzinogene Erfahrungen gewesen. Fliegenpilze sollen zu famosen Wahrnehmungen verhelfen können.
Besonders geeignet sind Punkte zur Behauptung von Wahrheiten: Der Punkt ist, dass ... Womit die Nullstelle gefüllt wird, ist dann ziemlich egal. Der Punkt ist die Wahrheit! Punkt. Mit Aspekten wäre ein solches Verhalten hingegen unüblich. Auf Wahrheit legt man es nicht so an. Man setzt sie - würde man sich sonst erläuterungslos äußern - einfach voraus. Handelt es sich nicht um die Demonstration eines aufgeklärten Umgangs?

In antiker Zeit hatten Aspekte die Wahrnehmung betroffen, nur sekundär auch Wahrgenommenes. Die sich Äußernden brachten eine besondere Ansicht oder Hinsicht ein. Noch heute ist die Formulierung in dieser Hinsicht geläufig. Ein Fachbegriff wurde jedoch nicht geprägt.
Heute, so ist zu vermuten, wird neben der Wahrheit auch die Wahrnehmung als selbstverständlich voraussgesetzt, also alles, was irgendwie mit wahr buchstäblich zusammenhängt. Eine Gedankenlosigkeit der Sach- und Fachautoren? Und eine neuropsychische Sprachfäule?

Und im Magen erst! Wer könnte garantieren, dass diese ominöse Fäule nicht zu Reizen führt, die außer Blähungen - in welche Richtungen? - auch noch opulente Geschwüre und Durchbrüche produziert? Einen guten Appetit!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

R.M.

Anmerkungen über Politik und 'Kultur'.

R.M.

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