Unerträgliche Verspannung

Kino Asghar Farhadi setzt seine moralische Fabel „Offenes Geheimnis“ kriminell gut um
Ausgabe 39/2018

Ein wenig fühlen sich die Dramen des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi stets wie Kriminalfilme und Whodunnits an. Auch wenn es weder Kreuzverhöre noch Showdowns gibt, steht im Zentrum seiner Werke stets ein Mysterium, an dem seine Protagonisten wachsen oder zerbrechen werden. Sind Nader und Simin, die Titelhelden seines Berlinale-Gewinners von 2011, schuld an der Fehlgeburt ihrer Haushälterin? Was steckt hinter dem Selbstmordversuch, der das Liebesdreieck in Le Passé ins Unglück stürzt? Wer ist für den Überfall auf die Frau des Laienschauspielers in The Salesman verantwortlich? Ganz gleich, wie aufgeräumt sich die Welt auf den ersten Blick präsentiert, schnell offenbaren sich aufgeschobene Konflikte und schwelende Widersprüche, die nur darauf warten, an die Oberfläche zu treten.

Mit einem Vorwissen über seine tief sitzende Skepsis gegenüber jeder Harmonie wirkt die Idylle, mit der sein neuester Streich Offenes Geheimnis beginnt, mehr als trügerisch. Unausgesprochene Missgunst hängt über Laura (Penélope Cruz) und ihrer Familie, als sie zur Hochzeit der Schwester in ihr beschauliches spanisches Heimatdorf zurückkehrt. Förmlich und falsch scheint die Freundlichkeit, mit der sie empfangen wird. Ist es Neid, weil ausgerechnet ihr die Flucht aus der provinziellen Abgeschiedenheit geglückt ist? Warum sollte man dem malerischen Ambiente entfliehen wollen? Warum wird sie nicht von ihrem Mann begleitet? Was hat es mit ihrem Jugendfreund Paco (Javier Bardem) auf sich, der die Familie als freundlicher Trabant umkreist und als Anteilseigner des familieneigenen Weinguts auch in die geschäftlichen Interessen eingebunden ist?

Dennoch machen alle gute Miene zum verspannten Spiel und stürzen sich in die Feierlichkeiten, als gelte es Thomas Vinterbergs Familiendrama Fest mit besserem Wetter zu remaken. Als Lauras Tochter Irene (Carla Campra) spurlos verschwindet und wenig später eine SMS mit Lösegeldforderungen eingeht, nimmt das Drama seinen Lauf, und Farhadi beschreitet erneut Krimipfade. Dennoch braucht es nicht allzu viel Ermittlungsarbeit, bis sich ein Sumpf aus gegenseitigem Misstrauen, längst bekannten, doch unausgesprochenen Familiengeheimnissen, finanziellen Abhängigkeiten und tief sitzendem Misstrauen offenbart. Auch wenn sich bald Twists häufen, fühlt sich das moralische Planspiel in mediterranem Klima nicht überfrachtet an – Farhadi weiß, wo Komplexität endet und Konfusion beginnt.

Gerade in einer Kinolandschaft, in der enthemmtes Chargieren und Tränenströme auf Kommando allzu oft mit Schauspielkunst verwechselt werden, sind die konzentrierten, stets der Sache dienenden Darbietungen des hier auftretenden Ensembles eine Wohltat für den Zuschauer. Jede leise Geste, jedes Zaudern, jeder Blick und jede Sekunde quälender Sprachlosigkeit setzt eigene Akzente, skizziert mit sparsam gesetzten Strichen tiefer liegende Geschichten und verdichtet die Erzählung weiter. So mutet gerade der Verzicht auf mimische Showstopper-Performances spektakulär an.

Wo Farhadis iranische Produktionen insbesondere von einer „westlichen“ Öffentlichkeit gern (und vielleicht zu Recht) als Schlüsselfilme über den Alltag im Unrechtsregime verstanden werden, kommen seine Arbeiten mit internationalem Cast wie Le Passé und jetzt Offenes Geheimnis eher universellen Moralfabeln gleich und wecken in den besten Momenten Erinnerungen an Tragödien der Antike. Wie deren Könige, Töchter, Väter und Mütter sehen sich hier auch Laura und Paco bald mit tragischen Verstrickungen der eigenen Lebensläufe konfrontiert, die ohne ihr Zutun an Dynamik gewinnen und sich gegen sie wenden. Das Schweigen der wohlsituierten, doch auf Sand bauenden Elterngeneration, ihre wohlgehegte Gier und eine Tradition in Sachen Standesdünkel haben ein Klima der Zwietracht erzeugt, in dem Verbrechen zur Option werden und ohne Skrupel mit dem Leben nachfolgender Generationen gespielt wird.

In der mühelosen Eleganz, mit der diese großen Themen hier in der Form einfacher Genre-Standards verhandelt werden, ohne dabei unter der Last der Bedeutsamkeit zu ächzen, offenbart sich einmal mehr Asghar Farhadis Meisterschaft.

Info

Offenes Geheimnis, Asghar Farhadi, Spanien/Frankreich/Italien 2018, 132 Min.

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