Notfalls die reine Lehre opfern

DIE US-WAFFENLOBBY IM WAHLKAMPF Die "National Rifle Association" trifft mit ihrer kompromisslosen Pro-Gun-Orthodoxie auf entschlossenen Widerstand

Die National Rifle Association (NRA) ist vor den Wahlen nach eigenen Angaben recht gut bei Kasse, und auch die Mitgliederzahl boomt - bis November könnte der Rekord von vier Millionen gebrochen werden. Die Organisation befand sich aufgrund von Gesetzesbeschränkungen, finanziellen Sorgen, einer erodierenden Anhängerschaft und bitteren Richtungskämpfen noch vor einem halben Jahrzehnt kurz vor dem Zusammenbruch. Doch sie ist wieder da.

Nachdem im vergangenen Jahr Fanatiker entfernt wurden, die selbst ihren militanten Anführern zu extrem waren, erfand sich die Association selbst neu - geschmeidig, mit ausgefeilter Struktur, die Hollywood-Größe Charlton Heston an ihrer Spitze, aufgepeppt durch eine Heerschar brillanter Lobbyisten auf dem Washingtoner Capitol. Der NRA-Haushalt von 135 Millionen Dollar reicht fast an den des Rekordjahrs von 1994 heran. Der politische Arm - das Institute for Legislative Action - hat 2000 bereits 25 Millionen Dollar eingetrieben, ihr Political Victory Fund bis Ende Februar 5,5 Millionen - beste Aussichten für ein Spitzenergebnis.

Jeden Zweifel an ihrem Einfluss im Capitol beseitigte die NRA, als ihre Lobbyisten 1999 in einem Meistercoup einen Gesetzentwurf für Waffenbeschränkungen zunichte machten, und das auf dem Höhepunkt der Empörung über die Tragödie an der Columbine High School (*) in Littleton/Colorado. 1994 verhalf eine starke NRA den Republikanern in mindestens zwölf Wahlbezirken zum Sieg und damit zur Kongressmehrheit. Seit langem ist sie mit der Grand Old Party verbündet und setzt jetzt auf den Sieg von George W. Bush - dem waffenfreundlichen Texas-Gouverneur. Vor allem in der Schlacht um das Repräsentantenhaus wird das Geld der NRA in Form von Spenden, "unabhängigen Ausgaben" und Wahlwerbung eine wichtige Rolle spielen. Entscheidend aber ist die Frage, ob die NRA in den sogenannten Wechselwählerstaaten ihre Basis zu mobilisieren versteht. Doch gerade in Pennsylvania, Ohio, Michigan, Indiana, Illinois und Missouri tut sich die NRA schwerer als je zuvor. Im Mittleren Westen - ihrer alten Hochburg - ist sie seit dem Massaker von Littleton heftigen Rückschlägen ausgesetzt. Umfragen zufolge werden dort Waffenkontrollen so vehement befürwortet wie nie zuvor. Unter der Führung von Frauen-Netzwerken aus den Vorstädten - Republikanerinnen wie auch Demokratinnen - ist erstmals eine kämpferische Schicht entstanden, die anti-gun wählen will. Eine vergleichbare Intensität zeigte bislang nur die militante Basis der NRA. Die Anti-Waffen-Stimmung führte nicht zuletzt zum "Million Mom March" nach Washington am Muttertag. Die Bluttat von Littleton provozierte im Mittleren Westen, wo die suburbs am Schnellsten wachsen, einen drastischen Meinungswandel. Doch die NRA reagierte prompt. Nachdem sie sich zuvor schon finanziell saniert, ein vorsichtiges Management und ein aalglattes Washington-Team angeheuert hatte, konnte sie aus der Post-Littleton-Stimmung einen perversen Vorteil ziehen: Als Präsident Clinton zugunsten von eher bescheidenen Gesetzen auf eine Waffenkontrolle drängte, schaltete die NRA in einen höheren Gang. Mit Hilfe von Briefsendungen, Massenanrufen, durch Werbung in Waffenshows, durch eine überdrehte Rhetorik gelang es, die Mitglieder wieder strömen zu lassen. So hiess es in einem NRA-Brief: "Al Gore will jedem Waffenbesitzer einen Personalausweis aufzwingen. Er spricht zwar nicht von einer eintätowierten Nummer auf dem Oberarm, aber Sie wissen schon..." Zu einem bestimmten Zeitpunkt schickten 600.000 neue NRA-Mitglieder ihre 25-Dollar-Beiträge ein, allein im März traten im Wochendurchschnitt 70.000 bei. Zur Infrastruktur der Mitgliedsgruppen in allen Bundesstaaten, Washington D.C. und Puerto Rico kommen Hunderte von Gun Clubs in den hintersten Winkeln der USA. Dabei ist die NRA für die Republikaner besonders in industriegeprägten Regionen hilfreich - wenn dort der AFL-CIO seine organisatorischen Stärken zeigt, spielt die NRA für die Republikaner eine ähnliche Rolle wie die Gewerkschaft bei den Demokraten. Letztlich wird in der Waffenfrage der Gewinner - oder Verlierer - George W. Bush heißen. Die NRA unterstützt ihn zwar massiv, doch unter bestimmten Umständen wird Bush sich als Kandidat davon distanzieren müssen. Der unabhängige Politik-Analytiker Stuart Rothenberg meint, der Eindruck, Bush sei der NRA allzu sehr verpflichtet, sei nicht nur für den Bewerber selbst peinlich, sondern auch für alle Republikaner, die sich um Sitze im Repräsentantenhaus bemühten. "Wird Bush tatsächlich als Kreatur dieser Lobby dargestellt, dann stoßen die Republikaner der zweiten Reihe auf Schwierigkeiten - auch in den Vorstädten." Offenbar jedoch hat die NRA das Problem schon erkannt und ließ bereits wissen, Waffenkontrolle werde bei den Wahlen 2000, die man als die wichtigsten seit mindestens 100 Jahren betrachte, "kein Hauptthema" sein. Ein derart moderates Vorgehen wäre nichts Neues, in den vergangenen Jahren hat die NRA oft Millionen an Wahlwerbung für und gegen diverse Kongresskandidaten ausgegeben, ohne das Thema Waffen auch nur anzuschneiden. Stattdessen mischte sie sich auf den Gebieten Kriminalität, Steuern oder Familienwerte gezielt ein. Dennoch bleibt die Frage - kann die NRA einen Anschein von neuer Kultiviertheit aufrecht erhalten oder wird sie in der Hitze des Gefechts zur alten Geiferei aus der Türsteherecke zurückkehren? Bislang galt eine eher ausgewogene Argumentation als opportun: Die USA brauchten keine neuen Waffengesetze, die bestehenden müssten nur umgesetzt werden.

Anti-Gun-Aktivisten glauben zudem, dass die NRA in Bedrängnis geratenen Republikanern, die wiedergewählt werden wollen, anders als in der Vergangenheit nicht nachträgt, wenn sie von der Pro-Gun-Orthodoxie abweichen. Zur Not wird die reine Lehre eben für das übergeordnete Ziel geopfert, die Kontrolle der Republikaner über das Repräsentantenhaus.

Dennoch bewegt sich die NRA im Jahr 2000 in einem anderen politischen Klima als 1994, zu Hochzeiten der Organisation. Die Bewegung für eine schärfere Waffenkontrolle verfügt zum ersten Mal über eine Basis und erlebt die Entstehung eines Netzwerks aus staatsweiten und lokalen Gruppen, die Wähler organisieren und an die Wahlurnen bringen. Anwälte haben Waffenhersteller mit einer Welle von Haftungsklagen in die Defensive getrieben. Und jeder neue Fall von hochgradiger Gewalt, bei dem Schusswaffen eingesetzt werden, stimuliert die Bereitschaft der Wähler, diejenigen aus den Ämtern herauszuwählen, die von der NRA unterstützt werden.

Übersetzung von Max Böhnel

(*) Im April 1999 hatten zwei Schüler an dieser Lehranstalt in Littleton/Colorado zwölf Mitschüler, einen Lehrer und anschließend sich selbst getötet.

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