Gefährdete Behaustheit

Privatisierung Wenn die "Heuschrecken" vor den Türen städtischer Wohnungen stehen

In seinem Roman Das Leben. Gebrauchsanweisung rückt Georges Perec eingangs die gleichsam kollektive Dimension des Wohnens ins rechte Licht: "Die Bewohner eines gleichen Wohnhauses wohnen nur einige Zentimeter voneinander entfernt, eine einfache Wand trennt sie, sie teilen sich die gleichen Räume, die sich über die Stockwerke hinweg wiederholen, sie machen zur gleichen Zeit die gleichen Bewegungen, den Wasserhahn aufdrehen, an der Wasserspülung ziehen, das Licht anknipsen, den Tisch decken, einige Dutzend gleichzeitiger Existenzen, die sich von Stockwerk zu Stockwerk, von Haus zu Haus und von Straße zu Straße wiederholen."

Die Masse macht´s: Vor allem nach dem Ersten Weltkrieg schrieb der deutsche Wohnungsbau, nicht nur quantitativ, eine Erfolgsgeschichte. Allerorts entstanden Wohnungsbaugesellschaften in öffentlicher Trägerschaft, die sich auf gemeinnützige Zwecke verpflichteten; sie sollten auch jenen Stadtbewohnern qualitativ hoch stehende Wohnungen bieten, die sich das mit ihren niedrigen Einkommen auf dem offenen Markt nie hätten leisten können. Unter dem Stichwort "Sozialer Wohnungsbau" entwickelte sich eine spezifische gesellschaftliche Innovation und zugleich ein Reformmotor für die Architektur. Ohnehin hat es eine besondere Bewandtnis mit der Behausung des Menschen. Sie steht nicht nur für Schutz vor Witterung und Unwägbarkeiten, sondern auch für Identität, Wünsche, Status. Sie ist, im Wortsinne, essentiell. Obgleich das Dach über dem Kopf ein knappes Gut ist, kann es deshalb nicht wie eine gewöhnliche Ware gehandelt werden.

Dass jede Kommune, insbesondere jede Großstadt, über einen erklecklichen Eigenbestand verfügen müsse, um aktiven Einfluss auf die Entwicklung innerhalb ihrer Gemarkung ausüben zu können, galt deshalb auch in Zeiten des Wirtschaftswunders als ausgemacht. Und so besitzen - vom Steueraufkommen der Bürger finanziert - Kommunen, Bund und Länder noch einen durchaus relevanten Marktanteil, der auf gut drei Millionen Wohnungen geschätzt wird. Sie sollen die Grundversorgung der Bevölkerung mit erschwinglichem Wohnraum sicherstellen. Doch dieser Konsens scheint nun sukzessive aufgekündigt zu werden. Im März veräußerte die Stadt Dresden 48.000 Wohnungen an den amerikanischen Finanzinvestor Fortress. Dies hat, in der Wohnungspolitik wie auch in einschlägigen Fachverbänden, eine heftige Debatte entfacht, deren Echo noch immer nachhallt. Doch obgleich dieser Fall insofern einzigartig ist, als der gesamte öffentliche Wohnungsbestand einer Großstadt auf einen Schlag verkauft wurde, ist er weder der erste noch der größte.

Bereits im Jahr 2000 hatte der Bund 114.000 Eisenbahnerwohnungen veräußert. Die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) trat vier Jahre später ihre Wohnungsbaugesellschaft Gagfah mit 81.000 Wohnungen ab. Die Gehag, 1924 als Gemeinnützige Heimstätten-, Spar- und Bau-Aktiengesellschaft in Berlin gegründet - und Bauherrin so namhafter Quartiere wie Onkel-Toms-Hütte oder der Hufeisensiedlung von Bruno Taut -, ist mit ihren 21.000 Wohnungen 2005 verkauft worden. Und derzeit lauert die Branche auf die 100.000 Wohnungen der Landesentwicklungsgesellschaft (LEG) in Nordrhein-Westfalen, welche die CDU/FDP-Regierung privatisieren will. Fondsgesellschaften, zumeist aus den USA und Großbritannien, stürzen sich geradezu auf deutsche Mietwohnungen. Sie heißen Terra Firma, Fortress, Apellas oder auch Cerberus wie der dreiköpfige Höllenhund aus der griechischen Mythologie, der den Eingang zur Unterwelt bewachte - und der sich vor einiger Zeit die renommierte GSW mit ihren 66.000 Wohneinheiten einverleibte. Rund 600.000 Mietwohnungen haben die Investoren in den vergangenen fünf Jahren erworben, zumeist von Kommunen. Und es sollen noch weit mehr werden.

Die entscheidende Frage wird verdrängt

Den angelsächsischen Finanzinvestoren wird ein kurzfristiges Renditedenken nachgesagt. Sie stehen im Ruf, vorrangig am gewinnbringenden Weiterverkauf der Wohnungen interessiert zu sein und die Wohnungsgesellschaften "auszusaugen", indem sie sich aus dem monatlichen Cash Flow bedienen. Nicht zuletzt deswegen werden sie als "Heuschrecken" bezeichnet: ankommen, kahl fressen und weiterziehen, laute ihre Devise. Bislang gibt es keine Anzeichen für ein derartiges Verhalten. Andererseits ist aber auch noch nicht erkennbar, welche Investitionsstrategie die neuen Eigentümer verfolgen. Angesichts dieser Unsicherheit darf man sich über die Heftigkeit der derzeitigen Diskussion nicht wundern, zumal durch die geplante Einführung eines neuen Finanzinstruments, der börsennotierten, von Unternehmenssteuer befreiten Immobiliengesellschaften - der sogenannten REITs (Real Estate Investment Trusts) - zusätzlich Öl ins Feuer gegossen wird.

Dass Wohnung nicht nur Ware, vielmehr die wahre Wohnung Heimat sei: Dieser Satz ist nicht nur emphatische Metaphorik. Zumal es wohl kaum einen Bereich des modernen Lebens gibt, in dem die Beharrungskräfte jahrhundertealter Traditionen derart ausgeprägt sind. Mehr noch: An just diesem Punkt berühren sich der marxistische und der konservative Blick. Beide sehen den Gebrauchswert von Wohnung und Haus nur gesichert, wenn sie auf Distanz gebracht sind zu den Bewegungen und Dynamiken von Märkten. Dem widersprechen die derzeitigen Entwicklungen.

Nun kommt es allerdings nicht von Ungefähr, wenn plötzlich allerorts das "Marktliberale" reüssiert. Zum einen sind die kommunalen Wohnungsunternehmen von aktiven Gestaltern allmählich zu bewahrenden Verwaltern mutiert. Zum andern muss man sehen, dass nahezu alle Kommunen unter großem Leidensdruck stehen, was wiederum seinen Ausdruck in einer strukturellen Haushaltskrise findet. So nehmen heute Zins und Tilgung einen wachsenden Anteil an ihren Ausgaben ein. In dem Bemühen, finanzielle Spielräume wieder zu erreichen, drängen die Kämmerer darauf, kommunales Eigentum zu verkaufen und mit den Erlösen den Schuldenstand zu vermindern. Nach den städtischen Eigenbetrieben im Bereich der Ver- und Entsorgung (Wasser, Energie und Müll) sind nun die Wohnungsbaugesellschaften an der Reihe - aber nicht etwa, weil deren Verkauf jetzt als besonders sinnvoll angesehen wird, sondern weil es jetzt Käufer gibt.

Insofern muss man konstatieren, dass die Bestandsverkäufe an internationale Kapitalanleger zumeist aus der Not heraus erfolgen. Verdrängt wird dabei die gesellschaftspolitisch entscheidende Frage: Will und soll eine Stadt auf die Entwicklung ihrer sozialräumlichen Struktur Einfluss nehmen oder will sie das gänzlich den Marktprozessen überlassen? Die wenigsten Kommunen geben darauf eine klare Antwort. Die Privatisierungsgegner machen geltend, dass dem einmaligen Erlös langfristige Nachteile gegenüber stünden. Wenn die Investoren die Mieten erhöhten, zahle der Staat doppelt: Zum einen würden mehr Wohngeld und mehr Miete für Sozialhilfe fällig, zum anderen müssten die Kommunen Belegungsrechte teuer zurückkaufen, weil sie künftig keine eigenen Wohnungen mehr besitzen, in denen sie Bedürftige, die auf dem freien Wohnungsmarkt scheitern, unterbringen können. Mit wem, wenn nicht mit den öffentlichen Wohnungsgesellschaften, kann eine Kommune dann noch ihre Stadt entwickeln, das Wohnumfeld von Siedlungen verbessern? Was wird aus dem sozialen Frieden in einer Stadt, wenn Wohnquartiere ihre Integrationskraft verlieren? Wenn sich mehr und mehr die Arbeitslosengeld-II-Empfänger in einzelnen Wohnblocks konzentrieren und eine Stadt nicht mehr steuernd eingreifen kann?

Freilich muss nicht jede "Heuschrecke" gleich ein Parasit sein. Denn es ist keineswegs ausgemachte Sache, dass die Finanzinvestoren unbedingt und kurzfristig höhere Mieten im Sinn haben. Zwar operieren etwa Hedge-Fonds, die den buy-out in der Industrie verantworten, mit hoch verzinsten kurzfristigen Krediten und sind deshalb darauf ausgerichtet, schnelle Gewinne durch die Zerlegung von Unternehmen und den Abbau von Stellen zu erzielen. Damit stehen sie konträr zum "rheinischen Kapitalismus" - der in Deutschland vorherrschenden, von Mitbestimmung geprägten Unternehmenskultur. Aber die im Wohnungssektor tätigen Fonds, insbesondere die Pensionskassen, zielen eher auf eine mittel- und langfristige Rendite. Sie suchen nach Anlagemöglichkeiten für ihr immenses Eigenkapital, sind deswegen durchaus daran interessiert, den Wert der Bausubstanz zu erhalten. Insofern ähneln sie jenen Akteuren, die bislang das Geschehen auf dem Wohnungsmarkt dominierten.

Renaissance der Genossenschaftsidee

Ungeachtet dessen bleiben viele Kommunen reserviert. So hat man etwa in Hamburg zwar lange über das Abstoßen der Bestände diskutiert; aber angesichts dessen, dass jeder sechste Hanseat in einer städtischen Wohnung lebt, nahm schließlich der Senat Abstand von seinen Privatisierungsplänen: Das kommunale Wohnungsunternehmen Saga GWG erfülle strukturpolitische und soziale Aufgaben, zum Beispiel im Stadtteil Veddel, wo 60 Prozent der Bewohner Migranten seien. Die Straßen auf der citynahen Elbinsel mit S-Bahn-Anschluss sind gesäumt von Wohnblocks aus Backstein, die der frühere Stadtbaurat Fritz Schumacher entwarf. Jetzt vermietet die Saga dort günstig Wohnungen an Studenten, um den Stadtteil besser zu durchmischen. Zudem siedelte sie Kneipen sowie Läden an und gründete ein Veranstaltungszentrum, das sie später einem privaten Betreiber überlassen will. Das Ziel: aus einem drohenden sozialen Brennpunkt ein Viertel mit Zukunft zu machen.

Ein gänzlich anders geartetes Beispiel stellt Freiburg dar. Als der Stadtrat jüngst beschloss, seine 9.000 städtischen Wohnungen zu veräußern und damit - dem Dresdner Beispiel folgend - seine Schulden auf einen Schlag abzuzahlen, hat sich flugs eine Bürgerinitiative unter dem Titel "Wohnen ist Menschenrecht" gebildet und es tatsächlich geschafft, ein Bürgerbegehren durchzusetzen, so dass der Verkauf vorerst storniert werden musste.

Auch München, die deutsche Boom-Town schlechthin, trägt den Privatisierungskurs nicht mit - im Gegenteil: Nachdem sich der Bund fast vollständig aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen hatte, legte die bayerische Hauptstadt im Jahr 2001 das größte kommunale Wohnungsbauprogramm der Bundesrepublik auf. Wo sie kann, erschwert die Stadt Verkäufe von Wohnungen an Spekulanten und Investoren. Für eine Reihe von Stadtvierteln hat der Stadtrat dazu so genannte Erhaltungssatzungen erlassen. Sie legen fest, welche Art von Veränderungen an den Häusern erlaubt sind und welche nicht. Und sie enthalten Vorschriften, was ein Eigentümer mit seiner neu erworbenen Immobilie tun darf und was nicht - zum Beispiel Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umwandeln. Hält sich der Käufer nicht daran, hat die Stadt ein Vorkaufsrecht. Sie erwirbt dann vorübergehend das entsprechende Haus, bis sie einen neuen Interessenten gefunden hat, der sich sozialer verhält. Eine alte Idee ist auf diese Weise in München wiederbelebt worden: die des genossenschaftlichen Wohnungswesens. Einige der geretteten Häuser sind heute Genossenschaftseigentum.

Überhaupt muss man konstatieren, dass die Genossenschaftsidee in diesem Kontext eine Renaissance erlebt. Zum einen weist sie nicht nur eine gewisse Nähe zu (nun nicht mehr ganz so aktuellen) kommunitaristischen Vorstellungen, sondern auch Züge dessen auf, was André Gorz in einer "Bürgergesellschaft" mittels sogenannter öffentlicher Tugenden realisiert wissen wollte. Sie sei jenes Gewebe aus gesellschaftlichen Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit und Freiwilligkeit beruhen und nicht auf Recht und juristischer Verbindlichkeit. Die Wiedergewinnung des Öffentlichen geschehe nicht über die Vermittlungsagentur des Staates. Verfiele eine solche selbstorganisierte Bürgergesellschaft, dann verlangten die - wie Gorz sie nennt - "völlig vereinzelten Individuen", dass Mängel und Unsicherheiten im Zusammenleben durch eine immer vollständigere gesellschaftliche Sozialfürsorge ausgeglichen werden.

Zum andern, und ganz prosaisch, bilden Genossenschaften eine veritable Auffangstruktur im Prozess der Privatisierung von Wohnungsbeständen. Beides zusammen offenbart eingängige Logik: Wenn die Kommunen Einfluss auf die Entwicklung einzelner Stadtteile nehmen können, verhindere das soziale Folgekosten. Über diese Haltung kann man sich nur freuen: Denn Wohnraum(versorgung) ist nicht bloß eine fiskalische Frage, sondern nach wie vor auch eine der Umwelt- wie Sozialpolitik. Beantwortet werden kann sie nur, wenn es eine Vorstellung davon gibt, welche Rolle die Stadt als Körperschaft für das Zusammenleben in der Gemeinde spielen soll.


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