Der Stadtteil Ørestad in Kopenhagens Süden wartet mit den sogenannten Mountain Dwellings auf: ein Wohnberg, der sich über eine Fläche von 33.000 Quadratmetern aufspannt und dessen Apartments sich, von unten nach oben gegeneinander jeweils leicht zurückversetzt, geschossweise stapeln. IJburg, jener neu entstehende Stadtteil im Osten von Amsterdam, der auf sieben künstlich aufgespülten Sandinseln alsbald 48.000 Menschen eine neue Heimat bieten soll, organisiert die Stadterweiterung dagegen in typisch niederländischer Manier: dicht an dicht, uniform und nur bedingt individuell.
Beide Konzepte verbindet, dass nach Jahren der Bescheidenheit zeitgenössische Stadterweiterungen in Europa sich wieder großmaßstäblich manifestieren. In der Schweiz erfreut sich der Wohnblock neuer Beliebtheit: kolossale, kompakte Volumina aus Beton. Das ehemalige Industrieareal Neu-Oerlikon im Norden Zürichs zählt zu den größten innerstädtischen Entwicklungsgebieten und ist nun geprägt durch großflächige Überbauungen mit riesigen bodenebenen Fensterfronten.
Man muss eine neue Lust auf die sechziger Jahre feststellen. Was verwunderlich ist, weil die Zuversicht in einen „Städtebau der großen Systeme“ eigentlich obsolet sein sollte. Hat sich doch die enzyklopädische Vollständigkeit eines flächendeckenden Plans, der alle Probleme auf einmal lösen will, als frommer Wunsch erwiesen – oder als Albtraum. Was all die funktionalistische Rationalität in unseren Städten hervorgebracht hat – Großformen wie die Ruhr-Universität Bochum, das Aachener Klinikum oder die Autobahnüberbauung an der Schlangenbader Straße in Berlin als avancierte Wohnutopie –, beglückt kaum jemanden, abgesehen vielleicht von den oft aufgebrezelten Innenstädten. Nicht umsonst beklagt man die Maßstabslosigkeit, die geschwürartigen Wucherungen der Konsumgesellschaft.
Ist es nur folgerichtig, wenn man auf die „graue Masse“ nun mit „architektonischer Prägnanz“ reagieren will? Mit einem eben möglichst großmaßstäblichen Projekt? Liegt das in der Logik der „Festivalisierung“ von Stadtentwicklung, die Großereignisse fokussiert in der Hoffnung, sichtbare und exemplarische Erfolge zu erzielen? Und dabei bestimmte Fragen, etwa nach Perspektiven oder dem Verhältnis von symbolischem Ertrag zu realem (stadtgesellschaftlichem) Nutzen, nicht erst stellt?
Damit ist nicht gesagt, dass dem unmittelbar sinnlichen Eindruck keine Bedeutung zukommt. Schon der klare und formale Gegensatz zwischen Stadt und Land – verkörpert und symbolisiert bereits in der Antike durch die Stadtmauer – hat eine starke ästhetische Wirkung gehabt. Dem amerikanischen Architekturkritiker Lewis Mumford zufolge „begründete und unterstützte die Kunst mit einer Wirkung, die weit über bloße Worte hinausging, alles, was die neue Ordnung eingeführt hatte, um die Dimensionen des alten, rein agrarischen Raums zu ändern: vor allem die Macht der ungezügelten Fantasie selber, das Mögliche in das Wirkliche zu verwandeln und die bescheidenen Gewohnheiten des täglichen Lebens zu prachtvollen Gebilden zu vergrößern“. Es scheint dies eine bleibende Disposition zu sein, die auf die Frage, wie man heute urbanistisch zu agieren habe, zurückwirkt.
Endliche Expansion
Eine der neuen Antworten war das Konzept von Bigness – die Vorstellung, unter den Bedingungen moderner Stadtentwicklung könne nur das große, komplexe Projekt genügend Kraft entwickeln, um neue räumliche Ordnungen zu etablieren und Orte zu markieren. Geprägt wurde Bigness vom nimmermüden Stichwortgeber und Theorielieferanten Rem Koolhaas: Allein Bigness sei bahnbrechend für ein Regime der Komplexität, das die geballte Intelligenz der Architektur und der ihr verwandten Disziplinen zu mobilisieren vermag. Nur das baulich wirklich Große sei sich, angesichts der Menge und Vielfalt der Einrichtungen, die es birgt, selbst genug.
Das ist ein retrospektiver Befund. Er übersieht, dass der Versuch, Größe mit Größe zu bekämpfen, in die Sackgasse führt. Expansion, Wachstum, Zugewinn – das waren die ökonomischen und gesellschaftlichen Parameter der Vergangenheit. Angesichts des demografischen Wandels, globaler Krisen und ökologischen Herausforderungen gelten andere Maßgaben – Schrumpfung, Rückbau, Entschleunigung.
Gewichtig ist ein weiterer Aspekt – nämlich Städtebau nicht nur als eine bloß im Maßstab veränderte, „vergrößerte“ Architektur zu begreifen. Ende der sechziger Jahre waren städtebauliche Großformen en vogue, und zugleich, oft ins Kolossale driftend, ein Thema in den architekturtheoretischen Überlegungen, wie sie Kenzo Tange, Yona Friedman oder Adolfo Natalini anstellten. Dass sich Koolhaas aktuell den japanischen Metabolisten widmet, ist wenig überraschend (Rem Koolhaas/Hans Ulrich Obrist: Project Japan. Metabolism Talks. Taschen 2011). Metabolismus, diese futuristische High-Tech-Architektur, ist so spannend wie diskussionswürdig. Mag das Städtische mehrdeutig, heterogen, mitunter labyrinthisch sein – diese Architektur ist vor allem: explizit.
Die Alltagswahrnehmung ist auf Abweichung konditioniert. Das habituelle Desinteresse am Normalen oder Durchschnittlichen drängt es an die Peripherie des Handelns. Die großmaßstäblichen Block- und Zeilenstrukturen, die eine Renaissance erleben, setzen sich von einem als ungenügend diagnostizierten „Normalzustand“ ab und treten als Stabilisatoren in einem Erneuerungsprozess auf. Zumal Städte, die sich im globalen Wettbewerb behaupten müssen, attraktive Orte mit eigenständigem Charakter anbieten wollen – mittels distinkter äußerer Gestalt.
Es bleibt indes ein so häufiges wie gefährliches Missverständnis, städtebauliche Planung durch reine Architektur (insbesondere spektakuläre und große und teure Architektur) ersetzen zu können. Zum einen wird mitunter eingeräumt, dass der architektonische Umgang mit Bigness nicht gelungen sei und die Modelle für große Bauvorhaben sich kaum weiterentwickelt haben in den letzen 150 Jahren. Zum anderen liegt es in der Natur der Sache, dass die architektonische Großstruktur allenfalls einen (Stadt-)Baustein darstellt, dessen Logik darin liegt, dass er nur für sich „optimiert“ werden kann und in seinem oft mangelnden Zusammenspiel mit anderen Situationen zu einem Raum insulären Charakters zu verkommen droht.
Immerwährende Integration
Hier wird es interessant. Längst ist offenbar, dass die Tradition der modernen Architektur eher Objekte entwickelt hat als Räume, dass sie sich eher mit den Problemen des gebauten Körpers beschäftigte und nur wenig mit denen des ungebauten Zwischenraums. Die Grundhaltung in den Entwürfen des 20. Jahrhunderts ist folgerichtig darauf aus, die monarchische Würde der individuellen Solitäre zu ehren, die sich dort zu ihren eigenem Gedächtnis niedergelassen haben. Die programmatischen Siedlungen der Avantgarde mit ihren rationalistischen Zeilenbauten haben hier für alle Zeit ein Bild geprägt. Gleichwohl lassen gerade diese eine Frage offen: Wie soll man eine Stadt bauen, wenn sich alle Bauten als Objekte gebärden?
Das Ausspielen von Objekt und Raum macht nur Sinn, insoweit damit eine Strategie verfolgt wird, in der dieser Gegensatz Hinweise liefert für eine Diskussion um die Stadt. Barcelona ist dafür ein stupendes Beispiel. Hier wird manifest, wie ein tradiertes räumliches Ordnungsgerüst auch unter heutigen Bedingungen funktioniert – es vermag unterschiedliche Modernisierungsansätze zu adaptieren. Der von Ildefons Cerdà im 19. Jahrhundert konzipierte Stadtteil Eixample war bei allem Pragmatismus eine visionäre Integrationsleistung. Als Vorbild dienten die Grundrisse amerikanischer Städte, zur besseren Übersichtlichkeit der Kreuzungen wurden die Blocks an den Ecken abgeschrägt. Die Häuserblöcke sind allesamt quadratisch und haben einen großen Innenhof, in dem – so der ursprüngliche Gedanke – viel Grün für die Bewohner vorgesehen war. Und das rigide Blockraster von 113 mal 113 Meter Kantenlänge und dazwischen liegenden 20 Meter breiten Straßen ermöglicht bis heute eine individuelle Ausgestaltung der Parzellen und genügt Erfordernissen der Mobilität genauso wie des Freizeitverhaltens.
Heute beeinflussen Developer und Immobilientrusts den Städtebau nachdrücklich, setzen profitorientierte Malls, Bürotürme und Entertainment-Center die Maßstäbe. Kommunale Institutionen, denen Gemeinwohl vor Eigenwohl gehen müsste, agieren als Bauherren gesteuert von der Ellenbogenmentalität des internationalen Städte- und Standortwettbewerbs: Kultur- und Behördenbauten ebenso wie Wohnungsbau wetteifern in erster Linie um spektakuläre Wirkungen. Daraus entsteht kein Städtebau.
Zentral wäre deshalb ein – gemeinsam getragenes – Verständnis über architektonische Hierarchie in der Stadt gegeben. Was früher öffentlich war, wurde „bedeutend“ gestaltet – Rathaus und Kirche in der mittelalterlichen Stadt, Postamt, Bahnhof, Schule oder Stadttheater in der Stadt des 19. Jahrhunderts. Eine solche Hierarchie, so hat es der Architekturkritiker Gert Kähler einmal formuliert, trage zur Verstehbarkeit der Architektur bei, weil sie Orientierung vermittelt. Verstehbarkeit wiederum gäbe dem Bürger die Chance, auch Neues einzuordnen. Jenseits aller Versuche, mit immer wieder neuen Ideologien oder primär technischen Mitteln die Probleme der Städte in den Griff zu bekommen, existieren einfache Raumdispositionen, urbanistische Bausteine und stadträumliche Elemente, mit denen heute noch gut umzugehen ist, wenn sie denn mit neuen Inhalten gefüllt werden. Richtig eingesetzt, wird jedem Benutzer selbst unter den Bedingungen brüchiger gesellschaftlicher Konventionen über das Leben in der Stadt klar, dass nicht alles an jedem Platz und zu jeder Zeit stattfinden kann.
Gemessen daran ist Bigness eher eine poetische Verklärung. Wenn Koolhaas behauptet, deren Anziehungskraft liege zu Zeiten von Unordnung, Fragmentierung, Loslösung und Verzicht in der Fähigkeit, das Ganze wiederherzustellen, das Reale wiederzubeleben, das Kollektive neu zu erfinden und ein Maximum des Möglichen einzupflegen – dann ist das viel auf einmal. Zu viel.
Robert Kaltenbrunner ist beim Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung beschäftigt und als Publizist tätig
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