In seinem Buch "Parecon. Life after Capitalism" stellt sich der Amerikaner Michael Albert die Frage, wie Unternehmen funktionieren würden, wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln und die damit verbundene Macht außer Kraft gesetzt wären. Was würde passieren, wenn die Menschen selbst zu entscheiden hätten, was bisher die Unternehmer, die Kapitaleigner und ihre Manager regeln. Wer bestimmt dann die Löhne, die Arbeitsteilung, die Produkte, die Investitionen? Und wie lässt sich diese nach wie vor dezentral verfasste Volkswirtschaft koordinieren? Vielleicht ist der Gärungsprozess in der Gesellschaft, die überall zu hörende Unzufriedenheit mit den heutigen Zuständen, noch nicht weit genug gediehen, um durchdachte Antworten erwarten zu können. Auch die Autoren der Freitag-Debatte versammeln sich bislang um den Startblock und fragen sich zunächst, wohin sie springen sollen. Das muss auch so sein, sagt nun Robert Kurz: Wer die falschen Ausgangspunkte setzt, hat keine Chance. Trotzdem: die positiven Entwürfe werden noch kommen.
Die Utopien zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die Kinderschuhe des Sozialismus. Gegen die miserable frühkapitalistische Wirklichkeit wurden andere Prinzipien ausgeheckt, soziale Formeln für ein ideales Zusammenleben erfunden, "Grundriß und Aufriß" (Marx) einer ganz anderen Gesellschaft gezeichnet, und zwar unbekümmert um die reale historische Entwicklung und deren innere Widersprüche. Der Marxismus beanspruchte demgegenüber, den Sozialismus "von der Utopie zur Wissenschaft" (Engels) fortentwickelt zu haben. Sozialer Befreiung sollte die Einsicht in die "Gesetzmäßigkeiten" des Kapitalismus und der Geschichte zu Grunde liegen. Daraus entstand die Idee einer staatlichen Regulation der Arbeit. Der Sozialismus wurde politisch.
In dieser Hinsicht geht heute gar nichts mehr. Der östliche Staatssozialismus ist ebenso tot wie die mildere westliche Version einer keynesianischen Steuerung der Ökonomie. Unter dem Druck der 3. industriellen Revolution und der transnationalen Globalisierung des Kapitals schrumpft die Arbeit dramatisch, und die Politik wird zum Auslaufmodell. Das ist die Stunde der Aktualität für den "anderen", vom Arbeiterbewegungs-Marxismus weitgehend unterschlagenen Marx. Dieser verstand seine Kritik der politischen Ökonomie nicht als positives politisches Anwendungs- und Regulationsprogramm, sondern als radikale Kritik des aller Politik zu Grunde liegenden modernen warenproduzierenden Systems selbst. "Die Welt ist keine Ware", diese scheinbar griffige Parole der momentan gängigen Globalisierungskritik zielt aber keineswegs im Sinne einer zu Ende geführten Kritik der politischen Ökonomie auf eine Gesellschaft jenseits von Markt, Staat und "abstrakter Arbeit" (Marx), sondern will die Warenwelt bloß moralisch aufrüsten.
Praktischer Ausgangspunkt für eine neue, zugespitzte Gesellschaftskritik kann nur der Widerstand gegen die parteiübergreifende kapitalistische Krisenverwaltung sein. Aber dieser Widerstand erscheint zunächst selber noch als ein Interessenkampf in den Formen von Ware und Geld. Damit ist schon immer die Konkurrenz verbunden. Deshalb besteht die gesellschaftliche Transformation nicht, wie der alte politische Sozialismus dachte, in einer bloßen Verwirklichung dieses immanenten Interesses durch staatliche Regulation. Vielmehr geht es heute angesichts einer Weltkrise des warenproduzierenden Systems um die Perspektive eines Bruchs mit der herrschenden Produktions- und Lebensweise, die sich für die Individuen als verinnerlichter Zusammenhang von Lohnarbeit-Geldeinkommen-Warenkonsum darstellt.
Die Schwierigkeit dieser neuen Perspektive kann allerdings dazu verführen, in der Kritik des warenproduzierenden Systems auf eine utopistische Konzeptheckerei zurückzufallen. Traurige Beispiele dafür sind in der Freitag-Debatte die Beiträge von Franz Schandl (Freitag 25 vom 11. Juni), Stefan Meretz (Freitag 26 vom 18. Juni) und Ulrich Weiß (Freitag 28 vom 2. Juli). Statt das Problem der Interessenform zu benennen, wird es durchgestrichen und der immanente Interessenkampf kurzerhand überhaupt für obsolet erklärt. "Alle sprechen unreflektiert von Interessendurchsetzung, was in letzter Konsequenz nur heißen kann: Wie setze ich mich in Wert und wie entwerte ich andere?", behauptet Schandl. "Die eigenen Interessen durchzusetzen, bedeutet, sie gegen andere Interessen durchzusetzen ... Behaupte dich auf Kosten anderer ... Das Denken in Interessen ist immer auch ein Denken in Personen. Die Guten und die Bösen ... Personalisierendes Denken hat keine Haltelinie zum Rassismus", sekundiert Stefan Meretz. Da verschlägt es einem die Sprache. Der Kampf gegen unbezahlte Mehrarbeit, gegen Hartz und Agenda 2010 - ein einziger Irrtum, per se "personalisierend" und rassistisch?
In Wirklichkeit ist der soziale Interessenkampf nicht einfach identisch mit der individuellen und betriebswirtschaftlichen Konkurrenz. Die Kämpfe um Lohn, Sozialtransfers und öffentliche Dienste besetzen zwar eine bestimmte Ebene der Konkurrenz gegenüber den Institutionen von Kapital und Staat, aber sie gehen darin nicht auf. Vielmehr sind sie überhaupt nur möglich, wenn gleichzeitig die Konkurrenz der Betroffenen untereinander ausgesetzt wird. Gegenwärtig gelingt dies immer weniger; stattdessen nimmt die Atomisierung und Entsolidarisierung der Individuen überhand. Die Krisenwirklichkeit allein führt eben nicht von selbst zu einer Resolidarisierung. Erst wenn die Idee einer grundsätzlich anderen Gesellschaft im Raum steht, kann auch für begrenzte Ziele im Bestehenden die Konkurrenz durchbrochen werden. Nach dem Ende des politischen Sozialismus fehlt ein entsprechendes Paradigma. Die sozialen Bewegungen wagen es bis jetzt nicht, die Überwindung des Zwangssystems von Warenproduktion und Geldform ins Auge zu fassen. Ein solches Ziel ist natürlich nicht sofort praktisch greifbar. Aber allein schon durch seine ernsthafte Formulierung als gesellschaftlicher Diskussionsgegenstand kann es als eine Art Katalysator wirken, um dem zunächst immanenten sozialen Interessenkampf wieder einen Bezugsrahmen zu geben.
Schandl und Meretz verwechseln die radikal zu kritisierende gesellschaftliche Form von Ware und Geld, in der sich Sozialhilfeempfänger ebenso wie Manager befinden, mit dem zunächst nur in dieser Form erscheinenden Inhalt der Lebensinteressen. Auch wenn es kein Zurück zum traditionellen Klassenkampf geben kann, sind deshalb noch lange nicht alle Katzen des Interesses grau. Jeder von den kapitalistischen Gesellschaftsformen konstituierte Interessenkampf kann allerdings in personalisierendes Denken und in rassistische Ausgrenzungskonkurrenz umschlagen; diese stets präsente Gefahr erfordert die Anstrengung der Ideologiekritik gegenüber den sozialen Bewegungen. Zu meinen, sich diese Kritik ausgerechnet durch Propaganda des Interessenverzichts sparen zu können, heißt aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen.
Das Geheimnis der ganzen vermeintlich "konkret utopischen" Veranstaltung plaudert Ulrich Weiß aus, wenn er "das unmittelbare (!) Begründen ... eines Lebens jenseits von Klasse, Staat, Verwertung" fordert. In dieser Welt ist jedoch alles vermittelt, das heißt, durch historisches Gewordensein bestimmt, und die Idee der Unmittelbarkeit immer eine falsche. Der Bruch mit der kapitalistischen Interessenform, die man nicht ablegen kann wie ein Hemd, ist nur möglich durch eine Transformation des sozialen Interessenkampfes selbst, nicht durch dessen abstrakte Negation. Es bedarf einer komplexen historischen Gegenvermittlung, um die in Jahrhunderten ausentwickelte destruktive Reproduktionsform der "Verwertung des Werts" (Marx) aufzurollen. Dazu gehört, dass soziale Bewegungen nicht mehr den aussichtslos gewordenen politischen Dienstweg gehen, sondern sich außerparlamentarisch formieren. Notwendig ist es auch, den immanenten sozialen Interessenkampf und Widerstand gegen die kapitalistische Krisenverwaltung mit Momenten eines Lebens jenseits von "abstrakter Arbeit", Warenform und Geld anzureichern. Das wäre herauszufinden. Die Komplexität einer solchen Gegenvermittlung ist allerdings die Sache eines Hau-ruck-Theoretikers wie Franz Schandl nicht. Eine Welt "ohne Geld und Markt, ohne Arbeit und Wert", wie geht das? Schandl: "Denken wir sie uns weg!". Wegdenken statt Nachdenken - das ist ein wenig zu kurz gedacht.
Ein Aspekt bei der Transformation des sozialen Interessenkampfes kann unter den neuen Krisenbedingungen in der sozialen Aneignung von bestimmten sachlichen Ressourcen bestehen. Darunter fallen Aktionsformen wie etwa Haus- und Landbesetzungen oder organisiertes Schwarzfahren als Protest gegen die kommunale Verkehrspolitik. Solche Erfahrungen kritisch aufzuarbeiten ist freilich nichts für Unmittelbarkeitsdenker, die weglos zum Ziel kommen wollen. "Die ketzerische Frage lautet: Warum soll man kaufen müssen?", so Schandl. Er ist für "die freie Entnahme". Da kann er sich des Beifalls sämtlicher Konsum-Youngsters sicher sein, der bloß wenig mit emanzipatorischer Kritik zu tun hat. Die Idee eines Warenkonsums ohne Geld (Zahlungsfähigkeit) verlässt die Logik der Warenform und ihres "abstrakten Reichtums" (Marx) nicht. Schandl geht es gar nicht um die Analyse realer Ansätze von Aneignung, er fragt rhetorisch: "Warum soll Mehl gekauft werden? ... Und Mähdrescher? ... Es ist von alledem genug da". Warum ausgerechnet Mehl und Mähdrescher? Weil beides mit "M anfängt? Die Willkür und Beliebigkeit verrät, dass hier nichts durchdacht, sondern eben von der Sache weggedacht wurde. Das ist keine Konkretisierung, sondern im schlechtesten Sinne abstrakt. Und übrigens um keinen Deut besser als die ähnlich unreflektierte Parole der blauäugigen Rest-Linkskeynesianer von Attac, dass "genug Geld da" sei. "Keimformen" nicht-warenförmiger Reproduktion sind ja durchaus möglich, allerdings nur im Kontext sozialer Widerstandsbewegungen; so etwa gemeinsame Einrichtungen, die im Unterschied zu den gescheiterten Alternativ-Unternehmen nicht an den Markt gehen, sondern deren Betrieb im Gebrauch erlischt (Versammlungsräume, Bibliotheken, Kantinen). Die viel beschworene freie Software ist in dieser Hinsicht allerdings mit Vorsicht zu genießen. Erstens kann diese Nischen-Aktivität nicht auf die materielle und soziale Reproduktion übertragen werden; so ist zum Beispiel sauberes Trinkwasser für alle nicht algorithmisch darstellbar und kann nicht "heruntergeladen" werden. Zweitens steht hier nicht etwa eine andere soziale Organisationsform zur Debatte, sondern die "unentgeltliche" Softwareentwicklung als "Selbstentfaltung" (Meretz) anonymer Individuen. Ein virtueller Sozialismus als Ansammlung von Chatrooms? Das riecht eher nach einer Spätfolge der abgestürzten New Economy als nach sozialer Emanzipation.
Vollends verdorben wird das Konzept, wenn sich die angebliche "freie Springquelle wirklichen menschlichen Reichtums" (Ulrich Weiß) im sozialen Nahbereich mit klassisch reaktionären Ideen auflädt. Weiß möchte "einst konservative, traditionelle Lebensweisen" in "Momente einer neuen postkapitalistischen Vergesellschaftung" umdefinieren. Sich ausgerechnet mit solcher Akzentsetzung "zu Kindern bekennen" (Weiß) ist eine Option für die Familienideologie von Edmund Stoiber. Auffallen muss in diesem Zusammenhang, dass die Utopien von Schandl, Meretz und Weiß ohne den leisesten Verweis darauf auskommen, dass im warenproduzierenden System bestimmte Lebensbereiche, die nicht in der "abstrakten Arbeit" aufgehen, an den weiblichen Teil der Menschheit delegiert wurden. Dreimal darf man raten, wer sich hier vermittels freier Software der "Selbstentfaltung" hingeben darf (soweit man nicht gerade mit der Aneignung von Mähdreschern beschäftigt ist) und wer letzten Endes wieder für die "Liebe" und das Hinternwischen zuständig sein wird.
Wenn Ulrich Weiß die Melange aus High-tech-Individualismus und Familienidylle auch noch ohne jede Sensibilität für einen unseligen deutschen Zungenschlag mit Hölderlin als "Hoffnung auf lebendige Gemeinschaft" verkauft und darauf setzt, dass das "Volk" die Unmenschlichkeit der Geldwirtschaft "ahnt", geht die Reise verdächtig ins romantisch-lebensphilosophische Fahrwasser. Die Behauptung von Weiß, dass zwischen dem Ist-Zustand und einer Welt ohne Waren nur "Scharen von Anwälten" stehen, was ist sie anderes als eine "Personalisierung" der krudesten Art, die auf Sündenböcke aus ist statt auf emanzipatorische Systemkritik?
Natürlich hat dieses verkürzte Denken eine soziale Basis. Dass jemand "Hausmann und Ich-AG" ist (so die Selbstbeschreibung von Ulrich Weiß), gehört heute zum Massenschicksal. Aber die Ideologisierung der berüchtigten unmittelbaren Betroffenheit führt nicht zur Emanzipation, sondern verkleidet bloß ein nicht offen gelegtes, selber immanentes Interesse. Der "hausfrauisierte Mann", wie ihn Claudia von Werlhof nennt, möchte irgendwie obenauf bleiben, indem er die notwendige Auseinandersetzung um "abstrakte Arbeit" und Warenform auf seine unreflektierten lebensweltlichen Bedürfnisse einer Art virtuellen, flexibilisierten Neo-Kleinbürgerlichkeit herunterbricht. An die Stelle gesellschaftlicher Konfliktführung soll nur noch das kleinteilige Selbermachen treten. Wenn etwa Stefan Meretz ausschließlich darauf setzt, "die vielen Inseln" von Nischenexistenz "zu vernetzen", geht er systematisch am Problem der großen gesellschaftlichen Infrastrukturen vorbei.
Der Maßstab gesamtgesellschaftlicher Bewegung wird ausgeblendet, konkrete Analyse und Ideologiekritik durch das Pathos des abstrakten Menschen ersetzt, das nur eine idealisierte Version des Bestehenden darstellt. Für Stefan Meretz geht es allen Ernstes "um die individuelle Wiederaneignung von einfach nur Mensch sein". Der Begriff der Aneignung wird so zum Kitsch fürs soziale Poesiealbum herunter transformiert. Dazu passt die falsche Versöhnungsparole: "Den inneren Kampfhund abschaffen, den Beißreflex zurücknehmen" (Meretz). Am Interessenkampf stört anscheinend weniger das (Konkurrenz-)Interesse, das man selber klammheimlich hat, als vielmehr der Kampf. Aber vorläufig wird der Beißreflex noch gebraucht, und zwar kräftig. Eine kampflose Emanzipation von der Warenform ist bloß illusionär.
Schandl, Meretz und Weiß sind selber Fälle für Ideologiekritik, weil sie hinter den Arbeiterbewegungs-Marxismus zurückfallen statt über ihn hinauszukommen. Angesagt ist der zweite Abschied von der Utopie, nicht deren Wiederbelebung. Die historische Bewegung der Kritik ist etwas anderes als das Aushecken von Billigrezepten für den sozialen Schnellkochtopf. Theoretische Reflexion der Warenform in der Absicht ihrer Überwindung taugt nicht als billiger Jakob auf dem Markt der Meinungen. Wenn die falsche Unmittelbarkeit zum Programm wird, geht erst recht nichts mehr.
Robert Kurz lebt in Nürnberg und ist Publizist, Buchautor und Mitherausgeber der neuen Theoriezeitschrift EXIT. Jüngste Buchveröffentlichung: Weltordnungskrieg, Bad Honnef 2003
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