Je fiktiver und deshalb riskanter der kapitalistische Verwertungsprozess wird, desto schamloser blüht die Korruption. In der Not frisst man die fette Wurst auch ohne Brot. Da helfen keine Diätvorschriften, weil sowieso fast alles egal ist; wer sich erwischen lässt, hat eben Pech gehabt. Dem Global Player Siemens scheint dabei zuletzt das Pech an den Fersen zu kleben. Eine "schwarze Kasse" nach der anderen fliegt auf, die Staatsanwälte geben sich im Konzern die Klinke in die Hand. Nun sitzt Zentralvorstand Johannes Feldmayer in U-Haft wegen des Verdachts auf Begünstigung von Betriebsräten. Mindestens 15,5 Millionen Euro sollen über einen "Beratervertrag" ohne nennenswerte Gegenleistung an Wilhelm Schelsky, den inzwischen zurückgetretenen Chef der Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsangehöriger (AUB) geflossen sein. Die AUB ist kein spezielles Haustier von Siemens; sie stellt bundesweit zehn Prozent der Betriebsratsangehörigen und konkurriert wie der traditionelle Christliche Gewerkschaftsbund mit dem DGB.
Ein klassischer Fall, könnte man sagen. Schon seit dem 19. Jahrhundert war die Gründung handzahmer und pflegeleichter "gelber Gewerkschaften" ein Mittel, der sozialistischen Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben und soziale Konflikte zu domestizieren. Oberflächlich gesehen steht die IG Metall in der Tradition dieser Auseinandersetzung, wenn sie die AUB-Affäre skandalisiert und Strafanzeige wegen illegaler Begünstigung stellt. Das Peinliche ist nur, dass es vor kurzem beim ähnlich gelagerten VW-Skandal ihre eigenen Leute an der Betriebsratsspitze waren, die mit Lustreisen und finanziellen Zuwendungen geschmiert wurden. Längst geht es nicht mehr um den Gegensatz von "roten" und "gelben" Gewerkschaften. Die Farben der glorreichen Geschichte sind verblasst bis zur Unkenntlichkeit. Es ist kein Geheimnis, dass die von DGB-Gewerkschaften gestellten Betriebsratsfürsten in den Konzernen auch ganz legal gut gepolstert werden (oft mit hauseigenem Dienstwagen), und nicht selten die "Wahlkampagne für den Betriebsrat mit den Geldern ihres eigenen Konzerns finanzieren", wie Handelsblatt-Chefredakteur Bernd Ziesemer nicht ohne Häme feststellt.
Es handelt sich eher um ein strukturelles Problem, das seine eigene Geschichte hat. Die nach der gescheiterten Revolution von 1918 installierten "Betriebsräte" hatten nur noch dem Namen nach etwas mit emanzipatorischer Selbstverwaltung zu tun; sie waren als eine Art Schülermitverwaltung der Kapitallogik zwangsläufig in das betriebswirtschaftliche Konkurrenzinteresse inkorporiert und als Belegschaftsvertretung von vornherein ambivalent. Im NS-Staat wurden die Betriebsräte der rassistischen und antisemitischen "Volksgemeinschaft" einverleibt und funktionierten im Rahmen der "Betriebsgemeinschaften" als sozialer Kitt des Regimes.
Nach dem Zweiten Weltkrieg mündete diese Institution als Bestandteil der sozialen Marktwirtschaft in den Korporatismus von Staat, Gewerkschaften und Management, ohne dass die Vergangenheit jemals kritisch aufgearbeitet worden wäre. Zu Wirtschaftswunderzeiten warf dieser Korporatismus durchaus etwas ab für die Masse der Lohnabhängigen. Die "ehrlichen Makler" der Mitbestimmung konnten sich im Glanz respektabler Erfolge sonnen. Mit der Globalisierung und der dritten industriellen Revolution jedoch mutiert das Ganze zur Krisenmitverwaltung, in der es nur noch um den Grad von Lohnsenkung, Prekarisierung und Massenentlassung geht. Auch die Position der einst unantastbaren Kernbelegschaften wird unterspült, wodurch die gewerkschaftliche Repräsentation in den Betriebs- und Aufsichtsräten den festen sozialen Boden unter den Füßen verliert. Folglich löst sich - unter dem Druck der Globalisierung - der alte nationale Korporatismus mit wachsender Geschwindigkeit auf.
In den institutionellen Ruinen der Betriebsverfassung ist sich wie auch sonst überall jeder selbst der Nächste. Die "Netzwerk-Opportunisten" auf allen Ebenen wissen, dass ihre Zeit an den Fleischtöpfen in der Regel befristet ist; deshalb versuchen sie ihr persönliches Schäfchen rechtzeitig ins Trockene zu bringen. Das gilt für das Management genauso wie für die politische Klasse, den Kultur- und Wissenschaftsbetrieb oder die Sozialverbände. Gewerkschaften, die sich selbst zu Service-Unternehmen erklären und "kundenorientiertes Qualitätsmanagement" schulen, können da keine Ausnahme machen.
Wie oben, so unten: Auch die berühmte Basis besteht weitgehend aus entsolidarisierten Ich-AGs. Die kotzgelbe Farbe des ökonomistischen Liberalismus hat alle Fahnen der politischen und sozialen Identität im Krisenkapitalismus durchtränkt. Und so nimmt Deutschland bei Korruption einen guten Platz im globalen Mittelfeld ein. Alle empören sich darüber wohlfeil; und alle sind käuflich, sobald sich die Gelegenheit bietet, weil in Wahrheit niemand an den selbsttragenden "regulären" Aufschwung glaubt. Also bitte keine künstliche moralische Aufregung, als läge das Problem in der menschlichen Unzulänglichkeit der austauschbaren Personage. Der mehr denn je ins Schwarze treffende Marxsche Begriff der "Charaktermaske" war nicht im Sinne einer Gutmenschen-Ethik gemeint.
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