Mit der Umverteilung von unten nach oben muss endlich Schluss sein – diese Forderung erhebt dieser Tage nicht etwa Sahra Wagenknecht in einer Talkshow oder ein Gewerkschaftsführer in einer Betriebsversammlung, sondern die OECD, die Wirtschaftsorganisation der führenden Industriestaaten. „Unsere Analyse zeigt, dass wir nur auf starkes und dauerhaftes Wachstum zählen können, wenn wir der hohen und weiter wachsenden Ungleichheit etwas entgegensetzen“, sagt OECD-Generalsekretär José Ángel Gurría. „Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zentrum der politischen Debatte rücken.“
In der schleichenden Umverteilung von unten nach oben ist die Einführung von Hartz IV vor zehn Jahren nur ein Mosaikstein, wenn auch ein ziemlich großer. Eine OECD-Studie hat gerade gezeigt, dass die obersten zehn Prozent in Deutschland heute sieben Mal so viel verdienen wie die untersten zehn Prozent. Vor 30 Jahren betrug das Verhältnis noch eins zu fünf. Die ungleiche Verteilung kostet Deutschland ökonomisches Potenzial. Wäre sie gerechter, könnte das Bruttoinlandsprodukt um sechs Prozent höher ausfallen. Denn Ungleichheit ist ökonomisch schädlich, weil sie die Konsumnachfrage dämpft und die Chancen der Unterprivilegierten hemmt.
Selbst der IWF, der Internationale Währungsfonds, stößt ins gleiche Horn. Dessen Arbeitspapiere klingen heute oft so, als wären sie von linken Keynesianern geschrieben: Die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen dämpft die Wirtschaftsleistung und ist auch eine der Ursachen der Finanzkrise – weil die einen immer mehr Schulden anhäufen, die anderen immer mehr Vermögen, das angelegt werden will, während das Wachstum dahindümpelt.
Schon vor 15 Jahren ergab eine Allensbach-Studie, dass die Mehrheit der Deutschen den Eindruck habe, es gehe nicht mehr gerecht zu. Wenn aber praktisch jeder weiß, dass der heutige Grad ökonomischer Ungleichheit wirtschaftlich schädlich ist und die Mehrheit längst begriffen hat, dass es nicht gerecht zugeht – warum wird dann nichts daran geändert? Warum wird Deutschland vielmehr immer ungleicher? Widersprüchliches Verhalten
Es ist natürlich leicht, die Verantwortung auf gekaufte Eliten zu schieben, die nur eine Politik für das oberste eine Prozent machten, wie das heute schnell geschieht. Aber das ist zu grob gedacht. Man erinnere sich nur kurz an den letzten Bundestagswahlkampf. Die Grünen gingen da mit einem ganzen Steuerpaket an den Start: Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Brutto-Haushaltseinkommen von 80.000 Euro, Abgabe von 1,5 Prozent ab einem Vermögen von einer Million Euro, Verdoppelung des Aufkommens aus der Erbschaftssteuer. Allesamt Pläne, die nur die obersten fünf Prozent etwas gekostet hätten. Dennoch wurden sie brutal abgestraft und sind heute noch traumatisiert. Die Sozialdemokraten machen solche Pläne gar nicht erst – weil sie fürchten, sich damit selbst ins Knie zu schießen.
Es ist eine verstörende Tatsache: Die Bürger sind in ihrer Mehrheit für mehr soziale Gerechtigkeit, weigern sich bei Wahlen aber jene zu stärken, die konkrete Maßnahmen vorschlagen, die die Ungleichverteilung korrigieren könnten.
Hinzu kommt, dass Verteilungsungerechtigkeit ein schwammiger Begriff ist, was die Sache kompliziert macht. Es gibt Ungleichheit an Vermögen, Ungleichheit an Einkommen (wenn man alle Einkommensarten betrachtet) und außerdem Ungleichheit bei Gehaltseinkommen. Die Ursachen sind nicht immer dieselben, dafür aber sind sie alle gleich schwierig zu bekämpfen.
Nehmen wir nur die Ungleichheit bei Gehaltseinkommen. Diese nimmt auch zu, aber das Problem ist nicht so sehr, dass die Spitzenverdiener – sieht man von der dünnen Schicht der Topmanager mit Fantasie-Einkommen ab – zu viel verdienen: Wer 100.000 Euro im Jahr verdient, verdient zwar gut, aber das ist ja nicht das Problem. Zudem zahlt er in der Regel ordentlich Steuern. Das Problem ist, dass in den unteren Einkommenssegmenten zu wenig verdient wird.
Darauf hat die Politik aber nur bedingten Einfluss: Die Lohnfindung geschieht entweder im „freien Spiel“ des Arbeitsmarktes oder durch die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Und Gewerkschaften sind dort stark, wo die Löhne ohnehin passabel sind – etwa in der gut organisierten Metallindustrie mit ihrer hohen Wertschöpfung. Dort, wo die Löhne niedrig sind (etwa in den Dienstleistungsbranchen, vom Friseurladen um die Ecke bis hin zu Amazon), ist aber auch der Organisationsgrad und die Kampfkraft der Gewerkschaften niedrig.
Gesetzliche Mindestlöhne, wie sie in Deutschland nun seit dem 1. Januar gelten, sind hier die einzige Möglichkeit für die Politik einzugreifen – sie sind letztlich auch nur eine Notmaßnahme. Denn gleichzeitig wird seit Jahren Lohnzurückhaltung gepredigt, worauf der scheinbare Erfolg des Exportweltmeisters gründen soll. Darüber ist man in Deutschland allgemein glücklich, was aber nichts anderes heißt als: Die Leute hier sind stolz darauf, weniger zu verdienen als ihre Nachbarn.
Höhere Löhne in den niedrigen Einkommenssegmenten können aber nur bedingt durch Wirtschaftspolitik begünstigt werden. Am besten durch eine Wirtschaftspolitik, die annähernd Vollbeschäftigung schafft und so die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern stärkt. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Und zweitens durch eine großzügige Sozialgesetzgebung, die Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger mit angemessenen Lohnersatzleistungen ausstattet, da die untersten Einstiegsgehälter am Arbeitsmarkt immer weiter nach unten korrigiert werden, je schlechter die Transferbezieher gestellt sind. Deshalb hat die Hartz-Gesetzgebung nicht nur die Lage der Arbeitslosen verschlechtert, sondern auch die der niedrigen Gehaltsempfänger. Nur ist das vielen Beziehern niedriger Einkommen nicht bewusst – sie finden es sogar gerecht, dass jemand, der nicht arbeitet, deutlich weniger bezieht als sie selbst. Mit dieser Haltung schneiden sie sich aber ins eigene Fleisch.
Auch andere kaum hinterfragte Einstellungen der Bürger tragen dazu bei, dass sich die soziale Schere weiter öffnet: etwa das allgemeine Misstrauen gegenüber der Politik. Es gehört heute zur allgemeinen Überzeugung, dass der Staat ein gefräßiger Verschwender ist. Wenn eine politische Kraft – seien es Grüne oder Sozialdemokraten – vorschlägt, man möge Spitzensteuern und Vermögenssteuern erhöhen, um damit mittlere Einkommen zu entlasten, so glauben das die Bürger nicht wirklich. Sie unterstellen, der Staat werde sich die zusätzlichen Steuereinnahmen krallen, ihre Steuern aber unverändert hoch lassen. Das allgemeine Ungerechtigkeitsgefühl schlägt dann um in eine Verachtung des Staats und der Politik generell. Ein Verdruss, der es wiederum erschwert, eine gerechtere Politik durchzusetzen – es ist ein regelrechter Teufelskreis.
Bei anderen Aspekten sozialer Ungleichheit gibt es wiederum ganz andere Probleme: Steuern auf Vermögen, Kapitalerträge, die Unternehmenssteuern generell sind sukzessive gesunken über die vergangenen Jahrzehnte, teilweise um ein Abwandern des scheuen Rehs Kapital zu verhindern, teils um den Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dadurch wird aber ein immer größerer Anteil der Staatsausgaben über Steuern auf Löhne und Gehälter sowie über die Umsatzsteuer erzielt, ein immer geringerer aus anderen Steuerarten. Und so lange es Steueroasen wie Luxemburg gibt, lässt sich daran auf Nationalstaatsebene auch nicht so leicht etwas ändern.
Vermögen schafft Vermögen
Einmal entstandene Vermögensungleichheiten sind zudem nur äußerst schwer zu korrigieren. Thomas Piketty hat in seiner monumentalen Studie nicht nur zu einem allgemeinen Bewusstsein über diesen Sachverhalt beigetragen, sondern auch gezeigt, dass Vermögen in praktisch allen Phasen des Kapitalismus schneller wuchsen als die Einkommen. Das heißt: Vermögensungleichheit tendiert dazu, sich zu verschärfen. Und da die Besitzer höherer Vermögen bessere Anlagemöglichkeiten haben als die kleinerer Vermögen, gibt es eine Tendenz zu zunehmender Vermögenskonzentration. Will man eine entstandene Vermögensungleichheit verringern, braucht es daher radikalere Maßnahmen wie etwa Erbschaftssteuern von 50 Prozent auf hohe Vermögen. Wie aber soll das möglich sein? Pikettys Antwort: eine globale progressive Vermögenssteuer.
Ein Vorschlag, über den der marxistische US-Intellektuelle Benjamin Kunkel unlängst schrieb: „Wie soll es möglich sein, dass die geschäftsführenden Organe der herrschenden Klasse in allen Ländern quer über dem Globus gemeinsam beschließen, Pikettys massive Besteuerung genau dieser Klasse einzuführen?“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Ehrlich, da ist ja noch die sozialistische Revolution realistischer.“
Hohen Vermögensungleichheiten und schwachen Einkommenszuwächsen bei Niedrigverdienern kommt man mit homöopathischen Maßnahmen nicht bei. Und weil die Bürger das seit Jahren zur Gewissheit gewordene Gefühl haben, dass es nicht gerecht zugeht, sinkt die Legitimität des gesamten politischen Systems. Diese schwindende Legitimität macht es wiederum noch schwieriger, entschiedene Maßnahmen durchzusetzen – sei es zur Umverteilung, sei es zur Ankurbelung der Wirtschaft durch öffentliche Investitionen. Globalisierung und Zersplitterung des politischen Systems tragen das ihre dazu bei. Die Verflachung der politisch-medialen Debatte kommt noch hinzu.
Das Ergebnis ist, dass man zwar wissen kann, was getan werden müsste, aber sich kaum vorstellen kann, dass es getan würde. Gerade demokratische Systeme haben – das ist der Eindruck, den viele in den vergangenen Jahren gewonnen haben – eine Tendenz zur Selbstblockade. Wenn es viele Akteure gibt, die einen Konsens finden müssen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser Konsens am Ende nicht gefunden wird und deshalb dann gar nichts geschieht. Das ist die negative Botschaft.
Es bleibt nur ein positiver Strohhalm, der aber nicht vergessen werden darf: Demokratische Systeme sind so gebaut, dass sie bei Legitimationsverlust eine hohe Adaptionsfähigkeit haben – also irgendwann doch mit Veränderung reagieren. Die Hoffnung kann nur sein, dass das auch diesmal funktioniert. Und zwar bevor die Ungleichheit in der Gesellschaft einen Punkt erreicht hat, der die Demokratie irreparabel beschädigt.
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