Wir haben in Europa eine Reihe dramatisch gefährlicher Probleme: Horrende Arbeitslosenraten in einigen Eurozonen-Ländern, eine lang anhaltende ökonomische Depression im Süden, eine Rezession in den „reichen“ EU-Staaten, wir haben überschuldete Banken, teilweise hoch verschuldete private Haushalte und Staatsschuldenstände, die aufgrund des schwachen Wachstums noch drückender werden.
Eine große Pleite könnte das gesamte Wirtschaftssystem an die Kippe bringen. Aber ein Problem haben wir in Europa nicht: das Inflationsproblem. Nur die deutsche Politik und deutsche Medien glauben, die Inflationsgefahr wäre unser Hauptproblem. Die „Geldschwemme“, für die die Europäische Zentralbank sorge, würde unser Geld „aufweichen“, ist da zu lesen. Bald, wird hier der Teufel an die Wand gemalt, würde es Hyperinflation geben. Dann ist das Geld nichts mehr wert, die Sparer sind „kalt enteignet“. Die Inflation ist so ein bisschen eine deutsche Obsession.
Mark Schieritz, Zeit-Redakteur und einer der gescheitesten Wirtschaftsjournalisten des Landes, hat jetzt ein instruktives kleines Buch geschrieben, in dem er klar macht: All das ist nicht bloß Obskurantismus – sondern gefährlicher Obskurantismus. „Die größte Gefahr für unseren Wohlstand ist im Moment nicht die Geldentwertung selbst – sondern die Angst vor ihr. Sie verleitet zu Fehlentscheidungen und trübt den Blick für die wahren Herausforderungen unserer Zeit.“ Denn wer auf eine eingebildete Inflationsgefahr starrt, wie das Kaninchen auf die Schlange, neigt zu falschen Entscheidungen. Der senkt Staatsausgaben, damit nicht „zu viel Geld“ in die Wirtschaft gepumpt wird, und würgt das Wachstum ab. Wenn aber das schwache Wachstum das eigentliche Problem ist, Inflation aber nicht, dann hat einen solchen Politiker seine Inflationsparanoia zu einer fatalen Fehlentscheidung getrieben.
Ein großer Schwindel
Genau so etwas ist schon mal geschehen, im Deutschland zu Beginn der Dreißiger Jahre. Dabei ist in der deutschen Kollektivpsyche noch immer eingeschrieben, es wäre die Hyperinflation der zwanziger Jahre gewesen, die Hitler an die Macht brachte. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall, wenn, dann hat die Weltwirtschaftskrise und die Politik der deutschen Regierung, die in die Krise noch hineinsparte und Preisdeflation (also das Gegenteil von Inflation) in Kauf nahm, Hitler an die Macht gebracht. Fallende Preise, Rezession und Massenarbeitslosigkeit haben in die Katastrophe geführt, nicht Inflation.
Schieritz gibt sich viel Mühe, komplexe Zusammenhänge verständlich zu erklären. Etwa, weshalb die Geldmenge keineswegs rasant steigt, wenn die Zentralbank frisches Zentralbankgeld massenhaft ins Bankensystem pumpt: Das Zentralbankgeld ist nur ein kleiner Teil der Geldmenge. Viel mehr Geld wird durch Kreditexpansion von Banken geschöpft. Wenn aber Banken, wie in der Krise, ihr Kreditvolumen zurückfahren und auch private Haushalte auf ihrem Geld sitzen bleiben (also auch die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sinkt), dann kann die Gesamtgeldmenge schrumpfen, obwohl die Zentralbankgeldmenge steigt. Und ohnehin ist die Geldmenge nur in der Fantasiewelt von Monetaristen (also in der Fantasiewelt neoliberaler Ökonomen) ein besonders aussagekräftiger Indikator für Inflationsgefahr.
Denn das Preisniveau ist primär von der Nachfrage und den Löhnen abhängig. Schieritz: „Die Preise steigen, wenn die Lohnkosten steigen – und die Lohnkosten steigen, wenn die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen so rasant zunimmt, dass Arbeitskräfte knapp werden...“ Das heißt aber: Ein inflationäres Klima inmitten einer Krise, in der die Unternehmen ihre Güter nicht los werden und die Arbeitnehmer höchstens kleine Lohnsteigerungen durchsetzen – das ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Und deshalb haben wir im Augenblick ja auch keine Inflation. Wer einigermaßen plausibel erklären will, was Inflation ist und wie sie in die Welt kommt, der muss erst einmal erklären, was Geld eigentlich ist und wie es in der Alchemiewelt eines Kapitalismus mit seinen Finanzinstitutionen geschaffen wird. Es ist, formuliert Schieritz nicht ohne Witz, „ein großer Schwindel“, mit dem wir aber ganz gut leben. Aber es ist nicht nur ein Schwindel. Es wird aus dem Nichts geschaffen, aber es ist deshalb nicht ungedeckt – und es ist nicht nur Einkommen, es schafft auch Einkommen. Es erzeugt „die Güter, denen es seinen Wert verdankt“.
Nun ist es freilich so, dass die Bürger Inflation „spüren“. Manche Güter steigen sehr wohl im Preis. Aber der allgemeine Preisauftrieb ist geringer als noch in den fünfziger und sechziger Jahren. Das Problem sind also nicht leicht steigende Preise, sondern zu langsam wachsende Löhne. Und manche Preise steigen auch schneller. Gegenwärtig wird ja beispielsweise viel von der „Inflation“ am Immobilienmarkt geredet. Aber das ist ein sehr irreführender Gebrauch des Wortes. Was wir eigentlich unter Inflation verstehen, ist der Preisanstieg bei Konsumgütern. „Vermögensinflation“ ist etwas ganz anderes. Mehr noch, Angst vor Inflation kann sogar „Vermögensinflation“ verursachen. Es ist leicht zu begreifen, wie das geschieht: Wenn Sparern das Gefühl vermittelt wird, ihre Finanzvermögen würden bald durch Inflation entwertet, suchen sie andere Anlageformen. Alle wollen dann Villen oder Eigentumswohnungen kaufen. Und die Preise für Eigentumswohnungen schießen dann in die Höhe. Aber Eigentumswohnungen sind in diesem Fall keine „Produkte“ (das sind sie natürlich auch, aber es spielt keine Rolle), sondern langfristige Vermögensanlagen.
Mark Schieritz redet gewissermaßen auf die Deutschen ein wie auf kranke Kühe: Ihr habt eine Inflationsparanoia, aber die Inflation ist nicht unser Problem im Augenblick. Wenn sie es einmal wird, kann man auch etwas dagegen tun – aber alles zu seiner Zeit. Im Augenblick haben wir sogar zu wenig Inflation. „Wenn Politiker ankündigen“, schreibt er, „die Inflation komplett zu eliminieren, dann ist das eher eine Drohung als ein Versprechen.“
Wie Sektenanhänger
Eine Inflationsrate von null Prozent wäre eine äußerst schlechte Nachricht. Notenbanken könnten dann etwa auf Einbrüche der Konjunktur kaum mehr mit Zinssenkungen reagieren – da ein Leitzinssatz von weniger als null nicht denkbar ist. Gerade deshalb hat sich die Europäische Zentralbank ja das Inflationsziel von zwei Prozent gesetzt – für den Durchschnitt des Euroraumes. Wahrscheinlich wäre es aber im Augenblick sogar sinnvoll, wenn sich in Deutschland die Inflation bei knapp vier Prozent einpendeln würde, in den Krisenstaaten bei Null Prozent – das würde die notwendigen Anpassungen in den Krisenstaaten erheblich erleichtern. Oder anders ausgedrückt: Wenn in Deutschland die Löhne um vier Prozent steigen und in den Krisenstaaten gleich bleiben, werden sich die Ungleichgewichte langsam reduzieren. Stiegen sie in Deutschland um nur zwei Prozent, müssen die Löhne in den Krisenländern um zwei Prozent sinken, damit der gleiche Effekt erzielt wird – ein ungleich schmerzhafterer Prozess.
Dass in den noch einigermaßen als stabil geltenden Ländern das Zinsniveau unter die Inflationsrate gefallen ist, mag für einzelne Sparer unangenehm sein, ist aber kein Wunder: Wenn es an sicheren Geldanlagen mangelt und Vermögen wie wild nach Anlagemöglichkeiten suchen, sinken die Zinsen. Aber im Grunde ist auch das eine gute Nachricht, Zinsen oberhalb der Wachstumrate treiben Geldanlagen in Finanzinvestitionen. Zinsen unterhalb der Wachtumsrate sind dagegen ein Anreiz, sie in produktive Investitionen zu lenken, in denen Profite nicht nur umverteilt, sondern neue Werte geschaffen werden.
Mark Schieritz betreibt Aufklärung im besten Sinne: Er kontert Mythen mit Sachverstand und Argumenten. Er wird, so steht zu befürchten, damit nur beschränkten Erfolg haben; Inflationsparanoiker sind ein bisschen wie Sektenanhänger, die sich von Argumenten und der Realität in ihrem Glauben nicht beirren lassen.
Die Inflationslüge. Wie uns die Angst ums Geld ruiniert und wer daran verdient Mark Schieritz Knaur 2013, 141 S., 7 €
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