Das ist mein optimistisches Buch“, sagt Colin Crouch und lächelt ironisch. Er weiß ja, was man den Linken so vorwirft: Dass sie jammern und klagen, dass alles immer schlechter werde. Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe war 2008 im deutschsprachigen Raum mit seinem schmalen zeitdiagnostischen Band Postdemokratie schlagartig berühmt geworden, ein paar Jahre danach hat er das Buch Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus nachgelegt. Es wäre reichlich übertrieben, diese beiden Studien entschieden zuversichtlich zu nennen. Im ersten Buch hat Crouch eine Demokratie skizziert, deren Institutionen zwar funktionieren, aus der aber alles Leben gewichen ist, in der Wirtschaftslobbys übertriebenen Einfluss haben, die normalen Bürger sich aber verdrossen abwenden. Im zweiten beklagt er, dass sich daran trotz der Finanzkrise nichts geändert hat. Und jetzt hat er ein neues Buch: Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit.
Der Titel ist von irreführender Allgemeinheit. Man denkt im ersten Moment: Noch so ein Buch, in dem alle Fehlentwicklungen der westlichen Marktwirtschaften der vergangenen dreißig Jahre aufgelistet sind und in dem dann drinsteht, dass es auch anders ginge. Eines von diesen Büchern, die den Vorteil haben, dass das alles richtig analysiert ist, und den Nachteil, dass man das alles schon kennt. Aber dieses Buch ist von ganz anderer Art. Es ist ein Weckruf.
Ein Paradoxon
„Die europäische Sozialdemokratie muss aus ihrer defensiven Haltung, in der sie nun schon seit Jahren vor sich hin dümpelt, wachgerüttelt werden. Sie sollte erst gar nicht in dieser Haltung sein“, formuliert Crouch gleich zu Beginn. Und diese Sätze stimmen den Ton des gesamten Buches an. Crouch will der europäischen Sozialdemokratie Selbstbewusstsein geben und Klarheit über ihre Aufgaben verschaffen. Wobei Crouch „Sozialdemokratie“ in einem doppelten Sinn versteht: Schon, einerseits, in ihrer konkreten Parteiform, von Labour-Party bis zur SPD, und doch aber in einem weiteren Sinne: als politisch-theoretische Strömung, die innerhalb der kapitalistischen Marktwirtschaften als soziale und demokratische Reformbewegung wirkt.
Sozialdemokratie, dazu gehören in diesem Sinne auch die deutsche „Linke“, die griechische „Syriza“, letztlich auch die „Grünen“, dazu gehören aber auch Gewerkschaften und Institutionen, die von einem sozialdemokratischen „Geist“ geprägt sind – seien es Betriebsräte oder Sozialverbände wie die „Arbeiterwohlfahrt“.
Sozialdemokratie – das ist in einem gewissen Sinne ein Paradoxon. Geschichtlich ist sie im Antikapitalismus der marxistischen Arbeiterbewegung verwurzelt, die den Kapitalismus und die Marktwirtschaft abschaffen wollte. Spätestens mit dem zuerst von Eduard Bernstein theoretisierten „Revisionismus“ hat sie sich aber der praktischen Verbesserung der Lebensbedingungen einfacher Leute innerhalb dieser kapitalistischen Marktwirtschaft verschrieben. Und doch blieb da immer ein Spannungsverhältnis, und sei es nur subkutan, in der Schwundform des schlechten Gewissens: Welche Erfolge auch beim Aufbau eines prosperierenden Sozial- und Wohlfahrtsstaats erzielt werden mochten, es schien vielen Sozialdemokraten immer als halbe Sache, da die Kapitalherrschaft ja doch nicht gebrochen würde. Mit etwas Sarkasmus könnte man also die Sozialdemokratie als die erfolgreichste politische Kraft der Moderne bezeichnen, die aber auf ihre Erfolge nie recht stolz sein wollte. Und die kein rechtes Bewusstsein für ihre historische Aufgabe entwickelte, weil theoretischer Antikapitalismus und praktische Reformpolitik in einem Spannungsverhältnis blieben.
Crouch sagt nun: Nichts gegen Kapitalismus und Marktwirtschaft. Aber die kapitalistische Marktwirtschaft ist gerade dann erfolgreich, stabil und prosperierend, wenn ihre selbstzerstörerischen Effekte durch politische Maßnahmen und Regulierung von Märkten ausgeschaltet sind. Die reine Marktordnung führt zu Machtmonopolisierung und krass ungleicher Verteilung, und gerade diese Ungleichheit bringt Instabilität ins System; Umverteilung dagegen führt zu stabiler Prosperität. Crouch: „Soll der Markt für uns arbeiten? Ja! Soll er uns tyrannisieren? Nein!“
In der Güterproduktion und manchen Dienstleistungen zeitigt der Markt produktive Resultate, und für Crouch ist es hier sogar sozialdemokratisch, für mehr Markt zu streiten: Etwa, indem man durch effektiven Konsumentenschutz Monopolbildungen und Übervorteilung der Verbraucher verhindert. Auf anderen „Märkten“ muss die Konkurrenz aller gegen alle ausgeschaltet werden, etwa auf den Arbeitsmärkten. Ein wachsendes Lohnniveau führt nicht nur zu wachsendem Wohlstand der einfachen Bürger, sondern eben auch zu wachsender Konsumnachfrage, damit zu Wachstum, mehr Jobs, mehr Lebenschancen. „Sozialdemokratie“, das ist in diesem Sinn also eine Win-win-Situation. „Eine durchsetzungsfähige Sozialdemokratie ist keine Strategie, um sich vor dem Markt zu verstecken, sondern eine, mit der man ihn in einem Positivsummenspiel mit sozialer Bürgerschaft vereinbaren kann.“
Der Erfolg als Hypothek
Die „Sozialdemokratie“ als Idee kontrastiert bisweilen scharf mit der „Sozialdemokratie“ als Parteiform. Die „Sozialdemokratie“ als Idee ist das Beste, was wir heute zur Verfügung haben, die „Sozialdemokratie“ in Parteiform nicht selten lahm und erbärmlich.
Zum Teil ist dafür auch ihr Erfolg verantwortlich: Als „Arbeiterklasse“ oder „einfache Leute“ hat die traditionelle, relativ homogene Basis der Sozialdemokratien für Bürgerrechte, Anerkennung und gerechte Lebenschancen gekämpft. Mit dem Erfolg, also der Realisierung vieler dieser Ziele, „schwindet die Identität, die als ihre Eintrittskarte gedient hatte, und übrig bleiben einzelne Bürger, die sich mit einer in Parteien aufgeteilten politischen Klasse arrangieren.“
Der Aufstieg von Unterschichten in eine Mittelschicht führt zu Individualisierung, und die individualisierten Individuen wollen sich dann nicht mehr in Arbeiterparteien oder Gewerkschaften engagieren. Mit dem Aufstieg der Sozialdemokratien zu Regierungsparteien und dem Ausbau wohlfahrtsstaatlicher Institutionen entsteht auch ein öffentlicher Dienst, in dem Gewerkschaften stark sind, während gleichzeitig durch die Individualisierung und ökonomische Strukturänderungen die Gewerkschaften im Privatsektor, vor allem in den Dienstleistungsbranchen, schwach sind. Das führt im schlimmsten Fall zu geschützten Werkstätten auf der einen und ungeschützten Bereichen auf der anderen Seite und einer Spaltung der Arbeitnehmerschaft, was im Endeffekt wiederum die Legitimität sozialdemokratischer Politik untergräbt. Gewerkschaften sind dann am besten, beobachtet Crouch scharf, wenn sie in allen Branchen stark sind: Dann müssen sie das Allgemeinwohl im Auge haben. Schwindet ihr Einfluss in vielen Bereichen, neigen sie zu Klientelpolitik.
Ist die Sozialdemokratie damit aber nicht auch in gewissem Sinn an ihrem Erfolg gescheitert? Wo aber bleibt da dann der Optimismus, den Crouch ironisch reklamiert? Die Sozialdemokraten in Parteiform müssen eine neue Art von Politik um die Sozialdemokratie als Idee gruppieren. Das wird nicht leicht, aber Crouch hält es für möglich: „Sozialdemokratie muss eine Bewegung sein, die über die Grenzen einer Partei hinausgeht“, Sozialdemokraten müssen sich „mit Menschen mit anderen oder gar keinen Parteizugehörigkeiten verbünden“. Sie müssen verstehen: Wer sich in der Nachbarschaft oder für eine NGO engagiert, wer „sich einer Sache annimmt, die von marktgesteuerten Prozessen vernachlässigt wurde, der oder die tut etwas für die Sozialdemokratie“.
Hoffentlich wissen das die Leute von der SPD auch.
Jenseits des Neoliberalismus. Ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit Colin Crouch Passagen Verlag, Wien 2013, 233 S., 19,90 €
Robert Misik, geboren 1966 in Wien, ist Publizist. Zuletzt erschien von ihm das Buch Erklär mir die Finanzkrise!
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