Am 4. Juli geht es in Paris am Fuß des Eifelturmes los: Zum vierten Mal werden sich Fahrradfreaks auf eine Tour begeben: 4.444 Kilometer von Paris bis Moskau. Eine Fahrradfahrt halt – zugegebenen eine etwas lange. Aber Halt, an dieser Fahrt ist etwas Besonderes: Sie ist nicht nur Sport, sondern auch politisches Statement. Sie nennt sich „Bike for Peace und New Energies“: Strampeln für Frieden und neue Energien. Eine Etappe führt nach Verdun, dem Schlachtfeld, auf dem im Ersten Weltkrieg Hunderttausende ihr Leben ließen. Dann kommen Buchenwald, Dresden, Lodz, Chatyn. Vilna, Europas Kulturhauptstadt. Man könnte das fast eine Strecke des Grauens nennen.
Hier haben Völkerschlachten getobt: Napoleons Heer marschierte hier gen Osten, die Nazis ließen ihre Panzer rollen, hier stieß im Gegenzug die Rote Armee gegen Westen vor. Jede Wegmarke ein Massengrab. Zwischendurch werden Solar- und Windparks besichtigt und Firmen, die irgendetwas Ökologisches produzieren. „Man kann ja gar nicht anders, als durch belastete Orte zu fahren“, sagt Konni Schmidt, der Vorsitzende des Bikervereins. „Jeden Tag kommt man an eine Stelle, wo der Napoleon oder der Hitler durchgezogen sind.“ Dieses Jahr wird man zum 65. Jahrestag des Warschauer Aufstands in der polnischen Hauptstadt einfahren.
Ein biblisches Vorbild
Eine Friedensfahrt, die nicht durch die Menge ihrer Teilnehmer besticht. Nicht Masse wird hier in die Waagschale geworfen, sondern die Entschiedenheit derer, die einen Weg auf sich nehmen. Es ist tief im kulturellen Gedächtnis Europas verwurzelt, dass man weit gehen muss, um eine andere Welt zu erschaffen. Es ist ein biblisches Motiv: Schließlich hat schon Moses die Israeliten 40 Jahre durch die Wüste geführt, bis die im gelobten Land ankamen. Genauer: Eine Generation ging durch die Wüste, erst die nachfolgende erreichte ihr Ziel. Moses sah das gelobte Land, kam aber nie an. Wie immer sich das real zugetragen haben mag, seither ist die Exodusgeschichte „eine Vorstellung von großer Wirksamkeit und Kraft im westlichen politischen Gedankengut“, wie der Sozialphilosoph Michael Walzer einmal formulierte. Noch Marx schrieb, wenn er vom Weg zum Sozialismus sprach, „das jetzige Geschlecht gleicht den Juden, die Moses durch die Wüste führt“. Besserung scheint ohne Blasen an den Sohlen nicht zu haben.
Gewiss gibt es auch Gegenbilder im revolutionären Bilderfundus: Bilder des Erruptiven – der Sturm auf die Bastille, der Sturm auf das Winterpalais. Aber erstaunlich oft verbinden sich Vorstellungen von Nachdrücklichkeit mit der Überwindung großer Distanzen. Große Unternehmungen bleiben im historischen Gedächtnis, wenn sie mit Wegen verbunden sind. Wer könnte sich noch an Hannibal erinnern, wäre er mit seinen Elefanten nicht über die Alpen gezogen? Mao Tse Tungs chinesische Revolution ist untrennbar mit dem „Langen Marsch“ verbunden, der seine Armee von den östlichen Küstengebieten weit ins westliche Zentralland und dann in den Norden führte. Eigentlich eine Fluchtbewegung, die aber die kommunistische Bewegung stabilisierte. Mit jedem Kilometer wuchs das Ansehen derer, die eine solche Distanz zu überwinden fähig waren. Nicht zufällig war auch der Höhepunkt der US-Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings „Marsch auf Washington“. Der dauerte nur sechs Tage, aber die Ankunft am Lincoln Memorial war ein moralischer Triumph. „Wir können nicht umkehren“, sagte King in seiner Rede. „Vorwärts“ ist seit jeher die emanzipatorische Catch-Phrase.
Lange Märsche, lange Fahrten haben noch ein weiteres Surplus: sie stellen eine imaginäre Verbundenheit dar. Indem Mao China gleichsam umrundete, schuf er ein Symbol für die Einheit des damals zersplitterten Landes. Indem die amerikanischen Bürgerrechtler das Land durchwanderten, illustrierten sie ihre Idee von einem neuen Aufbruch „von Georgia bis Alabama“.
Erfolg garantiert
Denkt man über die Bilder nach, die solche langen Wege in uns aufrufen, dann stößt man schnell auf ein Paradox: Man geht zwar in eine Richtung, aber das Ziel ist die Umkehr. Schon Moses’ Weg durch die Wüste diente ja nicht nur dem Umzug in ein Land, in dem die Juden in Freiheit leben sollten. Die Bibel beschreibt den Marsch auch als Akt der inneren Selbstbefreiung. Das Volk, das in der Sklaverei eine sklavische Gesinnung entwickelt hatte, sollte diese erst einmal abwerfen. Wer heute, und sei es nur als Selbsttherapie, lange Märsche auf sich nimmt, hat oft die Idee einer Selbstveränderung im Kopf. Wer sich auf den Jakobsweg macht, der will als ein Anderer zurückkehren.
Die „langen Märsche“ sind die Stärke der Schwachen. Sie sind gewissermaßen das Gegenbild zur Revolution. Könnte die Weltveränderung in einer Viertelstunde erledigt werden, könnte man sich mühselige Touren sparen. Leicht fügen sich Märsche daher in die Bilderwelt der Reform ein – schließlich gehen sie Schritt für Schritt voran. Und verdammt oft führen sie ins Nirgendwo: Wie der berühmte „Marsch durch die Institutionen“, von dem manche nicht ganz zu Unrecht (wenn auch nicht ganz zu Recht) sagen, er habe mehr die Marschierer verändert als die Institutionen.
Für die Fahrer von bike4peace.de ist das keine Gefahr. Selbst wenn ihr Unternehmen keinen messbaren Nutzen bringen sollte, ein Gewinn ist ihnen sicher: Fitness. Konni Schmidt freilich ist überzeugt davon, dass die Tour auch dem Frieden nützt. „In Russland berichtet täglich das Fernsehen über uns. Und dann stehen Menschen am Straßenrand. Für die ist das berührend, dass die Deutschen, die einst mit Panzern kamen, jetzt mit Fahrrädern kommen.“
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