Anti-politische Literatur

80. Geburtstag Die Romane des Nobelpreisträgers J. M Coetzee verstören zusehends. Und das ist gut so
Ausgabe 06/2020
Wahre Größe entfaltet Literatur, wenn ihr die Botschaft nicht am Gesicht abzulesen ist
Wahre Größe entfaltet Literatur, wenn ihr die Botschaft nicht am Gesicht abzulesen ist

Foto: Janek Skarzynski/AFP/Getty Images

Wer den lange Zeit in Südafrika, inzwischen in Australien lebenden Autor J. M. Coetzee durch seinen berühmten Roman Schande kennt, mag von seinen drei letzten Romanen befremdet sein. Damals eine konkrete, kritische Auseinandersetzung mit einer aktuellen politischen Situation, derjenigen der Post-Apartheid – und jetzt die Geschichte eines erfundenen Kindes namens David, deren Beschreibung mehr Zeit in Anspruch nahm als der beschriebene Lebensabschnitt selbst? David, der Protagonist von jetzt schon drei aufeinanderfolgenden Romanen, wird offenbar nicht einmal elf Jahre alt. Denn der schon 2013 veröffentlichte Roman Die Kindheit Jesu erzählte von Davids unbegleiteter Ankunft in einem nicht genannten spanischsprachigen Land, bei der er auf fünf Jahre geschätzt wird, 2016 folgte Die Schulzeit Jesu, und jetzt stirbt David, wohl keine elf Jahre alt, in dem eben erschienenen Roman Der Tod Jesu, genauer The death of Jesus, oder sogar La muerte de Jesús.

Der Roman war nämlich schon im vergangenen Herbst in der spanischen Übersetzung publiziert worden, erst um die Jahreswende in der Originalversion und kurz darauf dann in der deutschen Übersetzung, die Reinhild Böhnke wie gewohnt in vielen Details mit dem Autor absprach. Diese eigentümliche Reihenfolge der Publikation ist Absicht, weil Coetzee damit eine kleine kritische Geste gegen die Vorherrschaft und unbefragte Geltung der englischen Sprache setzen will.

Aber warum überhaupt Jesus? Eine Gestalt dieses Namens tritt nur in den Titeln der Romane, nirgends im Text selbst auf, aber natürlich kann man die Lektüreanweisung des Titels beim Lesen der Romane kaum vergessen. Man wird also nach Parallelen suchen: Davids Familie ist gewiss keine heilige, aber seine Adoptiveltern Inés und Simón haben sich zu dem einzigen Zweck zusammengefunden, ihn zu behüten – nachgiebig gegenüber seinen Launen, etwa gegenüber seiner Weigerung, rechnen zu lernen. Dafür entwickelt David andere Zugänge zu Zahlen und zeigt sich als begabter Tänzer. Sehr bald wird er nicht nur von den Eltern, sondern auch von vielen anderen Personen in seiner Umgebung als ein besonderes Kind betrachtet. Nach seinem von einer seltenen Krankheit verursachten Tod, der schon im 19. von 25 Kapiteln des Romans eintritt, zeichnet sich etwas wie ein Kreis von Jüngern ab, die bereits an der Geschichte seiner Auserwähltheit arbeiten. Dementsprechend ist es keineswegs so selbstverständlich, dass es sich bei dem gerade erschienenen Band um den letzten einer Trilogie handle, wie im Klappentext zur deutschen Übersetzung vorausgesetzt wird: Immerhin ist Jesus ja das berühmteste Beispiel für jemanden, dessen Leben mit seinem Tod nicht endete, sodass ein vierter Band „Die Auferstehung Jesu“ heißen könnte, oder – ohne biblisches Wunder – „Das Nachleben Jesu“.

Sind die Romane also Allegorien? Dem widerspricht die Konkretheit der fiktiven Welt, in der David aufwächst. Weil in ihr Autos und Fußballmannschaften omnipräsent sind, aber weder Internet noch Mobiltelefone existieren, lässt sich das Geschehen auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts datieren. Die Figuren rund um David bleiben nicht so körperlos, wie dies in einer allegorischen Darstellung zu erwarten wäre. Im zweiten Roman geschieht etwa sogar ein Mord, und der Mörder bleibt im dritten außerordentlich präsent: „Für wen“ sollte er, bezogen auf die biblische Heilsgeschichte, „stehen“? Eher spielen die Romane mit Allegoriesignalen, ohne dass ihre allegorische Lektüre aufginge.

Bruchstücke

Ebenso wenig jedoch erlauben es die ausfabulierten Details, das Geschehen der Romane auf konkrete historische Sachverhalte zu beziehen oder seinen Schauplatz in einem handelsüblichen Atlas zu verorten. Die Amtssprache Spanisch, die in dem offenbar ausschließlich von Einwanderern bewohnten Land gesprochen wird, weckt vage Assoziationen an den frühneuzeitlichen Kolonialismus in Lateinamerika – wozu jedoch das sehr viel spätere historische Stadium des Erzählten nicht passt. Vor allem erfährt man nichts über die Beziehungen dieses Landes zum „Rest der Welt“, zumal die Einwanderer ihr früheres Leben beim Eintritt in dieses vergessen. Höchstens treten unverstandene Bruchstücke aus diesem früheren Leben auf: David zitiert zweimal leicht verstümmelte Verse aus deutschsprachigen Gedichten über sterbende Kinder (aus dem Erlkönig sowie aus einem der durch Mahlers Vertonung bekannten Kindertotenlieder Rückerts). Er zitiert sie wohlgemerkt auf Deutsch, ohne auch nur zu wissen, dass es sich dabei um Deutsch handelt, und ohne zu wissen, woher er sie kennt. Hier stellt sich bei mir eine Assoziation an die „Kindertransporte“ ein, mit denen 1938/39 über Zehntausend nach den Nürnberger Gesetzen als „jüdisch“ geltende Kinder durch ihre unbegleitete Ausreise nach Großbritannien vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten gerettet wurden. Dazu würde passen, dass David ohne die Begleitung seiner leiblichen Eltern in dem Land des Romans angekommen ist; dazu passt jedoch weder, dass das Schiff, mit dem David ankommt, auch erwachsene Migranten transportiert, noch dass im Exilland spanisch gesprochen wird. Referenzen auf jüngere historische Ereignisse gehen so wenig auf wie die allegorischen auf die christliche Heilsgeschichte.

Sehr viel Bedeutsamkeit also, ohne klare Bedeutung. Es kommt nicht von ungefähr, dass Coetzee der zum gegenwärtigen Zeitpunkt meistbeforschte lebende Autor sein dürfte. Ich fürchte allerdings (ohne Zahlen dafür nennen zu können), dass seine Leserschaft außerhalb der Universitäten seit dem sehr direkt auf eine aktuelle politische Situation reagierenden Roman Schande hierzulande kleiner geworden ist. Im Rahmen der aktuell dominanten Erwartungen an literarische Texte ist wenig Raum für solche, die man nicht auf einen handlichen Begriff bringen kann: Deutsche Buchpreise etwa werden vorzugsweise an „den Wenderoman“, „den Europaroman“, „den Migrationsroman“ verliehen. Der Rest gilt zunehmend als „unpolitische“ Literatur aus dem „Elfenbeinturm“ – mit einer Metapher, die der jüngst damit besonders gescholtene Peter Handke ironischerweise selbst einst provokativ für sich verwendete, um sich gegen eine kurzschlüssige Variante engagierter Literatur um 1968 abzusetzen. Überdies wird Autoren von literarischen Texten, die kein leicht paraphrasierbares politisches Anliegen besitzen, typischerweise unterstellt, sie verfolgten, soweit aus ihren Texten oder sonstigen Äußerungen dann doch etwas wie eine politische Tendenz herauszurechnen sei, die falsche. Auch die Verleihung des Nobelpreises an Coetzee war 2003 umstritten, insofern Schande ein Bild der südafrikanischen Postapartheid-Gesellschaft zeichnet, das nicht zum seinerzeit verordneten Optimismus passte. Nur ging man damals noch nicht so selbstverständlich vom Primat realpolitischer Haltungen aus, sondern diskutierte Literatur noch mehr als Literatur.

Kaum kontrollierbar

Von dem verstorbenen John Coetzee, also der fiktiven, aber natürlich nicht nur fiktiven Figur in J. M. Coetzees verschobener (Auto-)Biografie Sommer des Lebens, sagte einmal eine ehemalige Kollegin, er sei „nicht apolitisch“, sondern „anti-politisch“ gewesen. Gemeint ist damit ein Misstrauen gegenüber dem Agieren in gegebenen Institutionen der Interessenvertretung; sprachlich korrespondiert dem ein Misstrauen gegenüber Formen des Sprechens bzw. Schreibens, mit denen man andere von seiner Meinung zu überzeugen versucht. Bemerkenswerterweise nennt die Kollegin diese Anti-Politik jedoch „Coetzees Politik“. Wenn ausnahmsweise die Identifikation von John mit J. M. Coetzee erlaubt ist, so lässt sich seine Literatur als anti-politische Politik beschreiben, der folgerichtig andere Formen des Schreibens korrespondieren. In den Jesu-Romanen ist es das Ausfabulieren einer Welt, die einerseits ihrer eigenen Entwicklungsdynamik folgt, in die jedoch andererseits Texte und Ereignisse von außerhalb in verstellter, verschobener, kaum kontrollierbarer Weise hineinragen. Man braucht schon einige Bereitschaft, sich auf dieses Beziehungsgeflecht ohne destillierbare Botschaft einzulassen. Man kann übrigens notfalls mit dem dritten Band anfangen, weil dort zum Verständnis notwendige Handlungselemente des ersten und zweiten leserfreundlich zusammengefasst werden.

Am kommenden Sonntag feiert J. M. Coetzee seinen 80. Geburtstag.

Info

Der Tod Jesu J. M. Coetzee Reinhild Böhnke (Übers.), S. Fischer 2020, 221 S., 24 €

Robert Stockhammer ist Professor am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der LMU München

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