Außer Kontrolle

Literatur Nora Bossongs neuer Roman zeigt, wie weltpolitische Fragen und partikulare Begierden sich reiben – und irrlichtert in der Genozidfrage
Ausgabe 39/2019
Porträts von Getöteten in Kigalis Genozid-Gedenkstätte
Porträts von Getöteten in Kigalis Genozid-Gedenkstätte

Foto: Chip Somodevilla/Getty Images

Milan lächelte dezent“: Darauf achtet Mira genauer als auf die Ausführungen eines Kommissars während einer UN-Konferenz zur Lage im Südsudan. Die Eingangsszene von Nora Bossongs Schutzzone ist charakteristisch für den ganzen Roman: Irgendwie kann sich die Protagonistin und Ich-Erzählerin nicht so richtig auf die Politik konzentrieren, so umgetrieben, wie sie von ihren partikularen Begierden ist.

Dennoch dient Miras Tätigkeit als UN-Mitarbeiterin nicht nur als Vorwand dafür, sie mal in Genf, mal in New York, mal in Den Haag und nicht zuletzt in Bujumbura auftreten zu lassen. Es wird durchaus auch von ihrer Tätigkeit erzählt, vor allem von derjenigen in der Hauptstadt Burundis, und der Roman gibt eine in Details differenzierte, erwartbarerweise desillusionierte, immerhin nicht ganz defätistische Einschätzung dessen, was die UN mit ihrer Arbeit (nicht) zu erreichen vermag.

Verfolgt die Autorin also eine pädagogische Kassiber-Strategie, indem sie die Erwartung ihrer Leserschaft, die üblichen Psychogramme von jungen, hippen Deutschen aus dem oberen Mittelstand zu erhalten, nur befriedigt, um damit ein wenig internationale Politik einzuschmuggeln?

Dagegen spricht der überaus komplexe Aufbau des Romans: Die einzelnen kurzen Kapitel springen zwischen den Orten und Zeitpunkten, sodass man gelegentlich das Inhaltsverzeichnis konsultieren muss, um sich die Chronologie der Ereignisse zwischen 2011 und 2018 deutlich zu machen; hinzu kommen Rückblenden zu einer Phase in Miras Kindheit, zum Jahr 1994.

Bossong verzichtet, und das ist eine der großen Stärken des Romans, weitgehend auf den Versuch, eine afrikanische Perspektive zu simulieren – ein Versuch, der statt in die heutzutage so kritiklos geforderte Empathie weit eher in Übergriffigkeit und neue Formen des Exotismus zu münden drohte. Afrikanische Akteure gewaltsamer Auseinandersetzungen kommen nur sparsam in den Blick. Die Autorin ist noch vorsichtiger, als es Lukas Bärfuss in seinem Roman Hundert Tage war, der zwar ebenfalls die vermittelnde Perspektive einer Person aus dem Feld von UN bzw. Entwicklungshilfe wählte, diese Person aber doch noch sehr viel näher an das Gewaltgeschehen und seine Akteure herankommen ließ.

Bärfuss thematisierte den Genozid in Ruanda, während Bossong sich auf Gewaltereignisse im Nachbarland Burundi konzentriert. Beides verlief entlang der Grenzen zwischen zahlenmäßig sehr ähnlich verteilten Bevölkerungsgruppen, die einst „Rassen“, später „Ethnien“ genannt wurden, heute nach ruandischer Versöhnungsideologie idealiter nicht mehr unterschieden werden sollen: Hutu (in beiden Ländern mindestens 80 Prozent) und Tutsi (in beiden unter 20 Prozent). Die jeweils schlimmsten isolierbaren Gewaltereignisse innerhalb einer langen Geschichte von tödlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen verliefen in Ruanda und Burundi allerdings komplementär: Die möglicherweise genozidalen Massaker in Burundi von 1972 verübten Tutsi an Hutu; den organisierten Völkermord in Ruanda von 1994 verübten Hutu an Tutsi.

Begriffspolitik

Ich verwende die bedeutungsgleichen Wörter „Völkermord“ respektive „Genozid“ nur für den letzteren Fall vorbehaltlos, weil nur dort die dafür notwendigen Bedingungen vorliegen, dass die Gewaltereignisse zum einen einigermaßen gut dokumentiert sind und ihr genozidaler Status zum anderen juristisch, als Tatbestand des internationalen Rechts, anerkannt ist. Wo dies nicht der Fall ist, handelt es sich um einen Kampfbegriff, der in diffuser Weise „etwas besonders Schlimmes“ bezeichnen soll. So verwenden ihn zwei Figuren in Bossongs Roman, eine NGO-Mitarbeiterin sowie ein von Mira unter klandestinen Umständen befragter burundischer Oppositionspolitiker, für ein wiederum anderes Bündel von kaum isolierbaren Gewaltereignissen im Rahmen des 1993 einsetzenden Bürgerkriegs. Und so übernimmt es Mira, die für die UN einen Bericht über die Gewalt in Burundi zu erstellen versucht. Nun, dies sind Romanfiguren, deren Begriffspolitik als solche dargestellt wird, dagegen ist nichts zu sagen. Allerdings findet sich die Wendung „Völkermord in Burundi“ sogar – ohne jegliche Abtönung durch so etwas wie „mutmaßlich“ und ohne jede Entscheidung für ein Datum (1972 oder 1993?) – auch auf dem Klappentext des Romans. Und zwischen Verlag und Figuren steuern weder Erzählerin noch Autorin der inflationären Verwendung des V-Worts entgegen.

Mehr noch: Als die völkerrechtliche Anerkennung eines Genozids in Burundi längst kontrafaktisch behauptet worden ist, wird umgekehrt der eindeutig als solcher anerkannte Genozid in Ruanda bei der ersten Nennung mit dem täter- und opferlosen Satz „Es gab Tote in Ruanda, einige sagten 600.000, andere sprachen von einer Million“ eingeführt. Ich brauchte einen Tag, um das Buch wieder aus der Ecke zu holen, in die es nach der Lektüre dieses Satzes gepfeffert worden war. Aber auch im Laufe der dann doch noch zu Ende gebrachten Lektüre gelang es mir nur schwer, zu verstehen, worauf der vom Roman angestrengte genozidkomparatistische Wettbewerb Ruanda vs. Burundi hinauswill.

„1994“, das Jahr, in das die Rückblenden führen, erweist sich zunehmend als Chiffre für den Genozid in Ruanda, weil ein Mann, der für Mira die Rolle einer Vaterfigur einnimmt, selbst schon als UN-Mitarbeiter mit Ruanda zu tun hatte. „Burundi“ spielt auf dieser Folie die Rolle eines Korrektivs zwischen den beiden; vielleicht ist der schiefe Genozidvergleich ja auch einer schwierigen Beziehung der Generationen geschuldet, man will nicht mehr – wie die 68er – gegen die Väter rebellieren, aber sich doch von ihnen abgrenzen ... Zwischendrin wird der Sachverhalt überbetont, dass einige Kolonialbeamte schon in Deutsch-Ostafrika um 1900 Tutsi als Ansprechpartner bevorzugten – aus deutsch-narzisstischer Selbstbezichtigungslogik heraus müssten also die Hutu die Guten sein. Dass deren Anti-Tutsi-Propaganda in Ruanda sich schlimmster europäischer rassistischer Stereotype, darunter Antisemitismus-analoger, bediente, unterschlägt die Erzählerin hingegen.

Wo sich so viel ineinander verschränkt, kann eine Autor-Instanz dies unmöglich mehr im Dienst an einer politischen Aussage kontrollieren – aber dazu ist ein Roman ja nicht da, soll es wohl auch in diesem Fall nicht sein. Man behält ja auch sonst nur selten die Kontrolle. Insofern ist das dazwischengeratende Private im Roman nicht nur Staffage, sondern etwas, was aus dem Politischen nicht herausgerechnet werden kann. Flapsig zusammengefasst: Wie nur sollten wir von partikularen Begierden umgetriebenen Menschlein konzentriert und fachgerecht zur Besserung der Lage „in der Welt“ beitragen können?

Info

Schutzzone Nora Bossong Suhrkamp 2019, 332 S., 24 €

Info

Robert Stockhammer lehrt Literaturwissenschaft in München. Von ihm erschien Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben (edition suhrkamp 2005)

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