Neue Bücher über Fleischkonsum und Tierhaltung: Hinter den Wänden der Schlachthöfe
Sachbücher Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Tiere in den Städten präsent und Fleisch rar. Veronika Settele und Christian Kassung zeigen eindrücklich, wie Fleisch allgegenwärtig wurde und die leibhaftigen Tiere unsichtbar
Dicht an dicht stehen diese Kühe in einem Melkkarussel und werden nie das saftige Grün einer Wiese schmecken können
Foto: Imago/Joker
Elizabeth Costello, die von J. M. Coetzee erfundene, mit ihm aber nicht ganz identische australische Schriftstellerin, erregte um die Jahrtausendwende einige Irritationen bei ihrem fiktiven Publikum, als sie Schlachthöfe mit den Vernichtungslagern des Nationalsozialismus verglich. Deutlich später unterbreitete sie den Vorschlag, mitten in der Stadt gläserne Schlachthöfe zu errichten, keine großen, einfach nur Modelle zur Demonstration dessen, wie aus Schweinen Minutensteaks, aus Ochsen Entrecôtes, aus Hühnern Chicken Legs werden. Man könne doch ein Restaurant als Sponsor dieser Aufführung einbinden, welches damit die frische Schlachtung des von ihm angebotenen Fleisches kofinanzieren könnte.
Mir gefällt dieser Vorschlag wesentlich besse
lich besser als der frühere Vergleich, gerade weil ein solcher gläserner Schlachthof im Wortsinn „unheimlich“ wäre, insofern er zeigte, was „im Verborgenen sein sollte und hervorgetreten ist“ (Schelling, zitiert bei Freud). Dieser Vorschlag wird deshalb, so entgegnet schon Elizabeths Sohn John, nicht die geringste Chance auf Realisierung haben. Fleischesser wollten nun mal nicht daran erinnert werden, wie ihr Essen auf den Tisch kommt.Ja, es ist nachgerade die bauliche Raison eines Schlachthofs, in seiner Form seine Funktion zu verstecken: „Das Widerliche, welches aus dem Zwecke der Anstalt (...) hervortritt, muß durch die Kunst des Architekten gewissermaßen verhüllt oder zumindest abgeschwächt werden.“ Nachzulesen ist diese programmatische Forderung aus dem Jahr 1883, also aus einer Zeit der Errichtung zentraler städtischer Schlachthöfe, in Christian Kassungs Ende des vorletzten Jahres erschienener Studie mit dem griffigen Titel Fleisch. Darin gelingt es dem Autor, den Schlachthof, gegen die Intentionen einer ganzen Industrie, immerhin im Medium der Schrift durchsichtig zu machen, mitsamt seinen infrastrukturellen Bedingungen wie der Anbindung ans Eisenbahnnetz. Er zeigt auch, wie die dort zerlegten Tiere weiterverarbeitet werden, etwa als Hackfleischprodukte in der frühen Systemgastronomie der Berliner Aschinger-Filialen.Nachleben als Fleisch-ExtraktVeronika Setteles Buch Deutsche Fleischarbeit bestätigt und erweitert Kassungs Diagnose: Nicht nur die Schlachtung, sondern schon die Haltung von Nutztieren wurde zugleich industrialisiert und invisibilisiert. „Um die Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Tiere präsent und das Fleisch rar. 150 Jahre später war das Gegenteil der Fall: Fleisch war allgegenwärtig geworden und die leibhaftigen Tiere unsichtbar.“ Wurden etwa Schweine erst 1859, als erste Opfer der Gentrifizierung, aus den Straßen New Yorks verjagt, sind sie inzwischen sogar in Dörfern kaum noch anzutreffen, sondern in irgendwo dazwischen liegenden Fabriken dem alltäglichen Blick verborgen. Aber gegessen werden die Tiere mehr als je zuvor: Der durchschnittliche Fleischverbrauch pro Kopf sinkt derzeit nur in einigen europäischen Ländern – im weltweiten Durchschnitt steigt er immer noch an.Trotz kleinerer thematischer Überschneidungen ergänzen sich die beiden Bücher gut. Settele setzt den Akzent auf die noch lebenden Tiere, Kassung auf deren Tötung sowie ihr „Nachleben“ auf optimierten Küchenherden, auf Speisekarten und als „Liebig Fleisch-Extract“, das ist hochkonzentriertes Rindfleisch für den ausgefuchsten Hobbygourmet. Kassungs Schwerpunktsetzung auf die Zeit um 1900 wird im ersten Teil von Setteles Buch bestätigt; dessen zweiter Teil, die Kurzfassung ihrer Dissertation, konzentriert sich hingegen auf die Jahre 1945 bis 1990, in denen die beiden deutschen Staaten in allen hier entscheidenden Aspekten weitgehend konvergierten; der dritte Teil reicht in die Gegenwart hinein.Verschieden ist der analytische Stil. Der Berliner Kulturwissenschaftler schreibt gern pointierte Sätze wie: „Das, was wir als Schwein bezeichnen, ist ein hochgradig technisch hergestelltes und insofern zutiefst menschliches Produkt.“ Die Bremer Historikerin könnte das wohl unter-, würde es aber nicht selbst so schreiben. Bei ihr wird dafür auch mal der Gestank anschaulich, oder wörtlich: anrüchig, den Schweineställe in die Umgebung emittieren.Beide rekonstruieren detailliert die vielen ineinandergreifenden Tätigkeiten, die für die Verwandlung von Tieren in Fleisch notwendig sind, und illustrieren sie mit Fotos, bei deren Betrachtung man freilich gelegentlich etwas Lust an Kuriositäten haben sollte: konzentriert arbeitende Fleischbeschauerinnen unter Aufsicht von Obertrichinenschauern, stolze Teilnehmer des „1. Klauenputzerkurses“ im Gruppenbild, Werbeanzeigen für Abferkelbuchten, Darstellungen der Funktionsweise von Fleischhackmaschinen ...Selbstverständlich kommt es auch in dieser Industrie zum Einsatz von Computern und damit zu einer zunehmenden Entfernung der Arbeit von den Tieren selbst: Hatten zentrale Großrechner einst die erbbiologisch meistversprechenden Paarungen von Rindern ermittelt, so regeln inzwischen PCs schon in mittelgroßen Mastbetrieben die Futterzufuhr.Kassung erzählt die Abläufe für die Zeit um 1900 vor allem als Vorgang der Optimierung; bei Settele erscheint vieles, für die Zeit seit 1945, eher als Trial-and-Error. Wer sich etwa schon einmal darüber wunderte, dass in der derzeit zunehmend verbreiteten vierstelligen Klassifikation von Haltungsformen auf Fleischpackungen (durch die „Initiative Tierwohl“) die zweitschlechteste Kategorie von der schlechtesten fast nur dadurch unterschieden wird, dass den Tieren in Kategorie zwei „zusätzliches Beschäftigungsmaterial“ zur Verfügung gestellt werde, kann sich bei der Lektüre verdeutlichen, auf welches Problem dieses Hilfsmittel reagiert: Wenn in Schweineställen Spaltenböden gelegt werden, lassen sich zwar die Exkremente der Tiere sozusagen kanalisieren; weil die Schweine dann jedoch nicht mehr mit Stroh spielen können, beißen sie aus Langeweile die Schwänze ihrer Artgenossen ab. Sehr instruktiv sind auch die kombinatorischen Überlegungen zu Hackordnungen bei Hühnern, bei denen es schon zu unlösbaren Problemen kommen kann, wenn auch nur drei von ihnen in einen Käfig zusammengesperrt werden: Angenommen, Huhn B akzeptiert den Vorrang von Huhn A und Huhn C den Vorrang von Huhn B – Huhn C jedoch nicht den Vorrang von Huhn A: Wenn die Hühner biestig sind, hacken sie jetzt zu dritt aufeinander ein; wenn sie höflich wären, würden sie gar verhungern, weil dann Huhn C Huhn B den Vortritt ließe, dieses Huhn A, dieses aber wiederum Huhn C und so weiter ...Kassung ebenso wie Settele machen auch die Anteile diskursiver Praktiken an der Fleischindustrie deutlich. Je mehr sie sich dem direkten Blick entzieht, desto mehr wird über sie geschrieben. Elegische Distichen an Schlachthoffassaden, wie sie Kassung zitiert, dürften dabei der Vergangenheit angehören; inzwischen dominiert bekanntlich der festgefahrene Antagonismus eines kritischen Habitus der Öffentlichkeit gegen die Rechtfertigung der Industrie. Die Kritik an der Massentierhaltung ist übrigens, wie Settele zeigt, so neu nicht. Bernhard Grzimek etwa verglich schon 1975 die Hühner-„Batterien“ mit nationalsozialistischen Konzentrationslagern – und niemand geringerer als Martin Niemöller, der selbst acht Jahre in KZ inhaftiert war, verteidigte diesen Vergleich ausdrücklich. Elizabeth Costello sollte ihn trotzdem nicht in einer deutschen Publikation wiederholen, weil sich die Diskursregeln inzwischen geändert haben. (Dass, genau genommen, Grzimek Tierhaltung mit Dachau, Costello hingegen Tierschlachtung mit Treblinka vergleicht, würde juristisch keinen Unterschied machen.)Frisches Laborfleisch?Dankenswerterweise verzichtet Kassung ganz, Settele weitgehend auf Wertungen. Mich jedenfalls bringen solche Darstellungen weit eher dazu, meinen eigenen Fleischkonsum grundsätzlich zu überdenken, als es Appelle vermöchten, ihn doch gefälligst zu reduzieren. Etwas zu fortschrittsgläubig erscheint mir nur, wenn Settele am Ende ihres Buches eine Zukunft des Laborfleisches ausruft. Ob es sich dabei noch „wirklich um Fleisch“ handelt, wage ich nur zu bezweifeln, nicht zu bestreiten. Denn, um aus einem ebenfalls „frisch“ (?), passenderweise in der Zeitschrift Dritte Natur, erschienenen Gedicht von Daniel Falb zu zitieren: „Die Definition des Fleischbegriffs / obliegt der Dichtung.“Placeholder infobox-1
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