In Goma explodieren die Immobilienpreise. Für die Bewohner der kongolesischen Stadt an der Grenze zu Ruanda wird es immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu bekommen – und was „bezahlbar“ in einem der ärmsten Länder der Erde bedeutet, kann jedenfalls ich mir nur sehr vage vorstellen. Laut des Immobilienteils der Süddeutschen Zeitung, der sonst nicht eben als Forum für dialektische Globalisierungskritik bekannt ist, liegt dies vor allem an den Mitarbeitern von Hilfs- und Nichtregierungsorganisationen, die weit höhere Preise als diejenigen bezahlen können, zu deren Hilfe sie ins Land kommen.
In eben diesem Goma spielt der Hauptteil der Geschichte von Milo Raus neuem Stück Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs. Die namenlose Figur, die Ursina Lardi in einem langen Monolog verkörpert, war dort einst selbst NGO-Mitarbeiterin, freilich in den Jahren 1994 bis ’96: zunächst also in unmittelbarer Nachbarschaft des Genozids in Ruanda, sodann als Helferin in den Flüchtlingslagern, in denen sie sich ausgerechnet um die aus Ruanda in den Kongo geflohenen Täter kümmern musste, schließlich als Zeugin eines Einmarsches ruandischer Truppen, die sich an den Tätern rächten.
Die miteinander konkurrierenden NGOs mit ihren lächerlichen Namen und ihren teilweise dilettantischen Verfahren kriegen ihr Fett ab – jedoch werden die Ereignisse, in welche die Entwicklungshelfer hineingezogen werden, damit so wenig lächerlich gemacht wie ihre Versuche, doch noch irgendwie zu helfen. „Wir sind alle Arschlöcher“ – so lautet das Motto des Stücks –, aber wir können es dann doch noch auf sehr verschiedene Weise sein.
Gerahmt wird Ursina Lardis Monolog von zwei sehr viel kürzeren der Schauspielerin Consolate Sipérius, die während des ganzen Stücks im Hintergrund sitzen bleibt, als DJane hinter dem Mischpult, die mit vorgefertigten Samples die MC unterstützt. Zu Beginn hatte Sipérius sich als Überlebende der Massaker in Burundi von 1993 eingeführt, von Konflikten also, die entlang derselben Trennlinie zwischen den Gruppen der Hutu und Tutsi verliefen, die auch dem Genozid in Ruanda zugrundelag, sowie auch einigen der vielen Konflikte im östlichen Kongo. Sipérius stammt „tatsächlich“ aus Burundi, sie ist aber trotzdem nicht einfach nur Zeugin, sondern auch „tatsächlich“ Schauspielerin.
Nicht mehr nackt sein
Und Lardi ist nicht nur „tatsächlich“ eine Schauspielerin, sondern spielt auch eine. Das Stück wurde am vergangenen Samstag in jenem eher kleinen Saal C der Schaubühne am Lehniner Platz uraufgeführt, der in typischen Peter-Stein-Inszenierungen ganz als Bühne diente. Diesmal schauen die Zuschauer sozusagen vom Hintergrund der Bühne in verkehrter Richtung auf diese. Dabei entwickelt Lardi nicht nur eine intensive Präsenz, sondern spricht auch über ihre Fähigkeit, eine intensive Präsenz zu entwickeln. Sie müsse dafür nicht mehr schreien, sagt sie, und tatsächlich schreit sie auch nur einmal. Sie müsse dafür auch nicht mehr nackt sein, sagt sie, und tatsächlich ist sie nie nackt, aber einmal pinkelt sie auf offener Bühne. Auf dem riesigen Bildschirm hinter ihr ist sie meist live, zu Beginn und gegen Ende aber mit zuvor aufgenommenen Szenen zu sehen, die sie selbst live betrachten kann.
Solche Illusionsbrechungen, die Selbstreflexion des Theaters auf dem Theater, sind zwar ziemlich genauso alt wie dieses selbst. Milo Rau hat dieses Mittel jedoch bisher selten verwendet, sondern vor allem anderswo auf das Theater reflektiert und daraus die Konsequenz gezogen, es an seine Grenzen zu treiben: mit Formen wie dem Reenactment in Hate Radio oder inszenierten Tribunalen, unter anderem in Moskau und in Bukavu, einer Stadt an der Südspitze desselben Kivu-Sees, an dessen Nordspitze Goma liegt.
Wenn Rau die Befragung des Theaters jetzt auf das Theater selbst bringt, dann nicht, um ein Spiel zu treiben, das vom politischen Einsatz ablenkt, sondern um den Beitrag des Theaters zum Politischen zu diskutieren, ja noch die Komplizenschaft des Theaters mit demjenigen, was es kritisiert: Auch das Theater macht, sagt Lardi einmal, das Leiden anderer zu Geld.
Dem politisch Komplizierten kann nur mit ästhetisch Kompliziertem begegnet werden, aber beides passt nicht einfach zusammen, sondern potenziert die Komplikationen. Dass Milo Rau gerade in jüngster Zeit ziemlich viele Essays schreibt, die teilweise auch seine eigene Theaterarbeit thematisieren, macht die Sache nicht einfacher, zumal man bekanntlich nie weiß, ob der Autor sich selbst am besten versteht. Ich werde im Folgenden nur zwei besonders komplizierte Punkte nennen und unterscheide dabei einigermaßen künstlich das politisch und das ästhetisch Komplizierte.
Um an die derzeit meistdiskutierten und meistgezeigten Ereignisse anzudocken, steht das Stück unter der Leitfrage: „Warum löst Aylan – der syrische Junge, der an der Grenze Europas ertrank – eine kontinentale Empathiewelle aus, die Millionen Opfer in Zentralafrika jedoch nicht?“ Der Satz fällt nicht im Stück, er stammt aus einem Interview mit Milo Rau, das im Programmheft abgedruckt ist. Um dieser Verbindung willen hat Ursina Lardi zusammen mit ihrem Regisseur „tatsächlich“ nicht nur die Coltanminen im Kongo, sondern auch Orte besucht, über welche die Route vor allem syrischer und afghanischer Flüchtlinge nach Mitteleuropa verläuft. Das Fazit: Syrer und Afghanen sind coole Hipster, die sogar schon in Mazedonien in klimatisierten Bussen von einem wohleingerichteten Flüchtlingslager zum nächsten transportiert werden; ein AC/DC-Konzert zu organisieren, sei schwieriger.
Ich finde dies, zugegeben, ziemlich witzig. Aber nur so lange es eine Theaterfigur sagt. Skeptisch werde ich, wenn Rau im eigenen Namen in der Zeit schreibt, „der humanitäre Schlamassel [...] an den europäischen Außengrenzen oder auf der Balkanroute [sei] nur der alleräußerste, der gleichsam zarteste Ausläufer dessen, was für Milliarden Menschen Alltag ist“. Bei aller Zustimmung zu Raus Forderung nach „globalem Realismus“: Sind es wirklich die gleichen Zusammenhänge, für welche Kos oder Köln die zarten und der Kongo die unzarten Belege liefert? Der Kongo, bestätigt auch Slavoj Žižek im Programmheft, bietet wahrscheinlich das „klarste Beispiel“ für die Schuld nicht nur des kolonialen, sondern auch des nachkolonialen globalen Kapitalismus an Millionen gewaltsamer Tode. Eine These, die David Van Reybrouck 2012 in seiner Geschichte des Kongo ausgeführt hat (siehe Freitag 16/2012).
Noch mehr riskieren
Ist deshalb Syrien einfach ein weniger klares Beispiel für die gleiche Dynamik? Und muss diese katastrophenkomparatistische Überbietungsrhetorik sein: Ich vermute auch, dass Menschen im Kongo besonders geringe Überlebenschancen haben; ich bin wirklich davon beeindruckt, was Milo Rau dort macht – aber muss er betonen, dass er in das unzarte Herz dessen vorgedrungen ist, was unsereiner nur in den zartesten Ausläufern kennt?
Diese Kritik trifft jedoch nicht das Stück, das ja keine politische Abhandlung ist. Es kann mit seinen bewusst unreinen ästhetischen Mitteln noch mehr riskieren, wenn es, vermittelt über Sipérius’ Nacherzählung einiger Szenen aus Tarantinos Inglourious Basterds, gegen Ende sogar den Holocaust als eine Bezugsgröße ins Spiel bringt. Da gehört es auch dazu, falsche Fährten auszulegen, angefangen mit dem Titel Mitleid.
Nein, es geht nicht einfach darum, den Einzugsbereich des Mitleids über die europäischen Grenzen hinaus auszudehnen. Vielmehr geht es um eine Infragestellung der überlieferten, von Gotthold Ephraim Lessing ja gerade anhand des Theaters entwickelten Annahme, dass der mitleidigste Mensch der beste Mensch sei. Es geht um die Entwicklung und Erprobung anderer Formen der Anteilnahme. Lardi spricht von ihrem „Mangel an Mitleid“ angesichts mazedonischer Flüchtlingslager. Aber sie erklärt ja nicht Positionen, sondern sie spielt, und zwar so intensiv, dass der Zuschauer hin- und hergerissen ist, ob er sich von ihrer Figur distanzieren oder sich in sie einfühlen soll. Sie macht also die Möglichkeit oder Fragwürdigkeit des Mitleids selbst zum Gegenstand des Stücks. Man hat sich in den letzten Jahren angewöhnt, „Empathie“ zum Allheilmittel zu erklären, das alle politischen und ästhetischen Komplikationen mit einem Schlag auflösen könne. Diese Lösung verweigert Milo Raus Stück.
Info
Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs Regie: Milo Rau Schaubühne Berlin
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