Schaffen wir alternative Fakten!

Politik Warum sich unser Autor so über „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ ärgert
Ausgabe 04/2017
Für ihr kreatives Wording bekannt: Trump-Beraterin Kellyanne Conway
Für ihr kreatives Wording bekannt: Trump-Beraterin Kellyanne Conway

Foto: Mark Wilson/Getty Images

Alternative Fakten: Der Ausdruck der Trump-Beraterin Kellyanne Conway, mit dem diese die Angaben des Pressesprechers Sean Spicer über die Zahl der Anwesenden bei der Vereidigung des Präsidenten verteidigte, ist originell. Ein Mitarbeiter der englischsprachigen Wikipedia erkannte den historischen Moment, indem er noch am Folgetag einen Wikipedia-Artikel dazu aufsetzte.

Es wäre auch eine historische Chance gewesen, aber die wurde verpasst. Ganz schnell war man sich wieder einig, „alternative Fakten“ sei bloß ein anderer Ausdruck für „Lüge“. Man will ja nicht zur Lügenpresse zählen, sondern zur Lügenentlarvungspresse. Die Welt beispielsweise schämt sich nicht einmal, die wolkigen Stellen in Spicers Erklärung einerseits im englischen Originalton zu zitieren (dort geht es um eine „audience (...) both in person, and around the globe“), sie andererseits in der Übersetzung zum bloßen „beigewohnt“ zu vereindeutigen, um schnell zu folgern, die vergleichenden Bilder von den Inaugurationen Obamas und Trumps zeigten doch, dass Spicer gelogen habe. Die Bilder zeigen die Anwesenden vor dem Weißen Haus – Bilder, welche sämtliche Fernsehzuschauer rund um den ganzen Globus zeigen, habe ich aber noch nicht gesehen.

Ausgerechnet schlichteste Evidenzproduktion soll also zur Widerlegung böser Politik führen, die ihrerseits auf schlichtester Evidenzproduktion basiert. Die Nicht-Springer-Presse reagierte übrigens auch nicht intelligenter. Angeblich befinden wir uns im „postfaktischen Zeitalter“ – eher feiert ein Vulgärpositivismus unfröhliche Urständ, der beansprucht, dieser Politik mit simplen Faktenchecks begegnen zu können. In einer von einer angesehenen deutschen Tageszeitung zitierten Studie hieß es etwa, 26,3 Prozent der nachprüfbaren Aussagen Frauke Petrys seien überwiegend oder völlig falsch. Man überlege kurz, wie man sich zur Aussage verhielte, an 26,3 Prozent der nachprüfbaren Tage habe die Sonne überwiegend nicht oder gar nicht geschienen, und man wird verstehen, warum die Sonne gute Chancen hätte, die Verbreitung dieses Befunds beim Oberlandesgericht Köln zu unterbinden.

„Postfaktisch“, das deutschsprachige Wort des Jahres 2016, entspricht absurderweise dem englischsprachigen Wort des Jahres, post-truth. In beiden Sprachen werden „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ (beziehungsweise „Faktisches“) gleichgesetzt. Ein schlechterdings Wahres jenseits des Wirklichen anzusetzen wäre zweifellos eine metaphysische Opposition. Aber die simple Gleichsetzung von Wahrem und Wirklichem ist bekanntlich eine andere Gestalt der Metaphysik. Die Möglichkeit, dass Wirklichkeit und Wahrheit weder einen stabilen Gegensatz aufmachen noch auch schlicht zur Deckung kommen, der Spalt zwischen ihnen, die, wie immer prekäre, Möglichkeit kontrafaktischer, gegebenenfalls „weltfremder“ (Michael Angele) Überlegungen: Das ist das Feld des Politischen.

Das war das Feld des Politischen. In der dominanten gegenwärtigen Reaktion auf Trump (oder hierzulande auf die AfD oder so genannte Rechtspopulisten) wurde es preisgegeben. Einige bekräftigen gleichzeitig, die Lage sei ernst. Aber wieso benimmt man sich dann so einfältig und überheblich, antwortet bloß mit dem dummen Verdummungsvorwurf, dem geschummelten Schummelungsvorwurf? Die Diskussionslage ist derart desaströs, dass man am ehesten noch vom Gegner lernen kann: Schaffen wir alternative Fakten!

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