Kleiner Mann - was nun?

Literatur Der Lockdown bietet Gelegenheit, das "überhitzte System" ins Visier zu nehmen. Vier Bücher*, die sich mit dem Symptom "Krise" beschäftigen.

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Bedürftige werden während der Großen Depression in den USA mit Lebensmitteln versorgt (1930)
Bedürftige werden während der Großen Depression in den USA mit Lebensmitteln versorgt (1930)

Foto: Topical Press Agency/Hulton Archive/Getty Images

Ölkrise, Finanzkrise, Migrationskrise, Klimakrise und Gesundheitskrise. Das Phänomen "Krise" ist nicht erst seit dem Auftreten des Coronavirus allgegenwärtig und seit langem ein Leitmotiv der Postmoderne. In immer kürzeren Abständen tritt die Weltrisikogesellschaft in den "Krisenmodus" und stellt unser auf Profit, Effizienz und Beschleunigung ausgerichtetes Leben in Frage. Handelt es sich dabei um einen Ausnahmezustand oder ist die Krise systemimmanent?

Historisch betrachtet ist die Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 der "Patient null" der Krisenforschung. Nach einem jahrelangen, durch die USA getriebenen, Wirtschaftsboom entwickelte sich im Sommer 1929 eine Spekulationsblase, die im Herbst in den New Yorker Börsencrash überging. Eine Rezession, die Massenarbeitslosigkeit, soziales Elend und politische Umbrüche zur Folge hatte, breitete sich weltweit aus. Für die deutsche Geschichtswissenschaft ein zentrales Ereignis, um den Zusammenbruch der Demokratie und den Aufstieg der Nationalsozialisten zu erklären.

Weimar und die Krise

Eine der gelungensten Analysen dieser Ur-Krise der Moderne liefert Detlef J. K. Peukert mit "Die Weimarer Republik" (1987). In dem Standardwerk zur Zwischenkriegszeit gelingt es dem Historiker, der im Jahr 1990 im Alter von 39 Jahren verstirbt, das Scheitern der Weimarer Republik nicht teleologisch an den Anfang bzw. das Ende der Erzählung zu stellen, sondern die Beschleunigungslogik und die einhergehende Krisenanfälligkeit der Epoche herauszuarbeiten: Ein Ansatz, der Prozesse in den Blick nimmt und so Systemstabilität bzw. -instabilität erklärt anstatt historische Fakten aneinander zu reihen.

Peukert skizziert die Zeit der Weimarer Republik als den Durchbruch der "klassischen Moderne". Seit der Jahrhundertwende war es in den Natur- und Humanwissenschaften, in der Industrie, Architektur, Kunst, Literatur, Freizeitkultur, Rundfunk und Film zu immer neuen Höchstleistungen gekommen, die bis heute das moderne Leben prägen. Auch in der Politik gab es Fortschritte: Das politische System hatte weitreichende (Sozial-)Standards und ein ausgeweitetes Wahlrecht für Männer und Frauen hervorgebracht. Damit einher ging eine bis dato nicht gekannte Politisierung der Bevölkerung, unterstützt durch Lautsprecher und Massenflugblätter.

Wenn überhaupt, dann lässt sich der Boom der letzten zehn Jahren in den USA, China und den meisten westeuropäischen Staaten, gekennzeichnet durch immer neue Börsenhöchststände, getrieben und befeuert von einer globalisierten und vernetzten Weltwirtschaft, technisch-digitalen Revolutionen, bei gleichzeitiger Prekarisierung der Arbeitnehmerschaft und steigender Ungleichheit wohl nur mit den Jahren 1924 bis 1929 vergleichen. In beiden Epochen überhitzen die vom Kapitalismus angetriebenen ökonomischen Nationalwirtschaften (durch entfesselte Finanzmärkte) und führen Innovationen, gerade im Bereich der Informationsmedien, zu politisch-gesellschaftlichem Wandel (und Instabilität).

Bibel des "guten Lebens"

Wer hier einen Schritt weiter gehen will, sollte das Buch "Resonanz - Eine Soziologie der Weltbeziehung" (2016) lesen. Hartmut Rosas 800-seitiges Werk überträgt Peukerts Analyse auf die Gegenwart. Er konstatiert, "dass die moderne, kapitalistische Gesellschaft sich immerzu ausdehnen, dass sie wachsen und innovieren, Produktion und Konsumtion steigern, Optionen und Anschlusschancen vermehren, kurz: dass sie sich beschleunigen und dynamisieren muss, um sich selbst kulturell und strukturell zu reproduzieren, um ihren formativen Status quo zu erhalten" (S.13/14).

Jedoch nutzt Rosa diese Erkenntnis nicht, um historische Verläufe zu erklären, sondern ist an den Möglichkeiten der Krisenüberwindung interessiert. Die Kernthese seines Buches lautet: "Wenn Beschleunigung das Problem ist, dann ist Resonanz vielleicht die Lösung" (S.13). Dabei ist dem Autor wichtig, diesen Lösungsansatz nicht mit Entschleunigung gleichzusetzen; vielmehr ist ein gutes Leben eng an die Qualität der Weltbeziehung geknüpft, d.h. "die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen" (S.19).

Was hier zusammenfassend recht theoretisch klingt, wird in Rosas Buch mithilfe zahlreicher Beispiele sehr anschaulich beschrieben. Es wird ersichtlich, was tatsächlich ein gutes Leben befördert und welche Verhaltensweisen und Systemstrukturen zu einem problematischen Weltverhältnis führen - dieses Verhältnis wiederum, im Sinne eines circulus vitiosus, ist Folge und Ursache verschiedenster Krisen, und zwar der Ökokrise ("Unfähigkeit, nachhaltig zu leben"), der Demokratiekrise ("immer mehr außerparlamentarische Proteste") und der Psychokrise ("Inkorporierung von Konkurrenz- und Optimierungslogiken").

Einen Ausweg sieht Rosa in der Postwachstumsgesellschaft. Er konstatiert zwar, dass den Menschen die Fähigkeit abhandengekommen ist, utopisch zu denken - denn auch die (meist als solche diffamierten) Gutmenschen verfallen allzu oft der Steigerungslogik des Systems ("Mehr Wachstum für Andalusien! [...] Mehr vegane Gerichte in der Mensa!"); und dennoch: Mithilfe wirtschaftsdemokratischer Institutionen ließe sich ökonomisches Handeln verändern und ein Bewusstseinswandel einleiten. Ganz konkret heißt das: Markt und Konkurrenz eingrenzen und Resonanzideen auf allen Ebenen oberste Priorität einräumen.

Als Mittel der Wahl sieht Rosa das garantierte, voraussetzungslose Grundeinkommen: Dieses breit diskutierte (und somit sich in Reichweite befindende) politische Instrument biete die Chance, existentielle Ängste aus dem Spiel zu nehmen und ein auf Ressourcensicherung und -vermehrung ausgerichtetes Leben in ein "resonanzsensibles" zu verwandeln. Zur Finanzierung schlägt er in Anlehnung an Thomas Piketty eine (globale) Erbschaftssteuer vor; in vollem Bewusstsein, dass der Widerstand der politischen Eliten auf allen Seiten (von links bis rechts) groß sein wird, aber damit auch die Voraussetzung für einen echten Paradigmenwechsel in sich trägt.

[Spannend wäre es, zu erfahren, wie Rosa die aktuelle Situation des Lockdowns einschätzt. Kann der Stillstand zur Neuausrichtung der Gesellschaft genutzt werden? Und falls ja, wie?]

Die Welt am Abgrund

Wem diese Gedanken zu wissenschaftlich-optimistisch sind, sollte einen guten Roman lesen. Einer der besten in der Rubrik "Krisenliteratur" ist Hans Falladas "Kleiner Mann - was nun?" (1932) - in seiner sozialkritischen Wirkung nur mit US-amerikanischen Werken der Great Depression wie The Grapes of Wrath von John Steinbeck oder den Fotografien von Helene Lange vergleichbar.

Der Roman, 2016 erstmals in der Originalfassung erschienen, erzählt die Geschichte des Angestellten Johannes Pinneberg und seiner Frau, Emma Mörschel, die sich nach ihrer Heirat und in Erwartung eines Kindes ein selbstbestimmtes und werteorientiertes Leben aufbauen wollen. Was als rührende Liebesgeschichte beginnt, entpuppt sich schnell als Tragödie, denn so stark der Wille der Protagonisten ist, die Krisen-bedingten Verwerfungen führt die beiden in immer existenziellere Notlagen.

Das junge Paar sucht zunächst in der norddeutschen Kleinstadt Ducherow ihr Glück. Pinneberg arbeitet dort als Buchhalter in einem Futter- und Düngemittelgeschäft, verliert jedoch durch eine Intrige die Anstellung. Über Beziehungen des Lebensgefährten seiner Mutter ergeben sich neue Möglichkeiten in Berlin: Pinneberg wird als Verkäufer im Warenhaus Mandel eingestellt, kann aber die Verkaufsquote nicht erfüllen und wird wieder entlassen. Die Kleinfamilie muss in eine Gartenlaube ziehen und ist auf Arbeitslosenunterstützung sowie Einnahmen aus Näharbeiten angewiesen.

Die Erzählung bietet einen detailreichen Einblick in die Lebenswelt "kleiner Leute" zu Beginn der 30er Jahre. Pinnebergs fühlen sich nicht dem Arbeitermilieu zugehörig und stehen den herrschenden Verhältnissen positiv und aufgeschlossen gegenüber. Dass es hierfür Anlass gibt, deutet Fallada zu Beginn der Geschichte an: Er führt in arbeitsrechtliche Standards ein (Gewerkschaft, Betriebsrat, Kündigung) und schildert den Arbeitsethos eines Angestellten (pflichtbewusst, fleißig, unpolitisch). Mit zunehmender Krise jedoch wird das Vertrauen in das System zerstört und kann letztlich nur durch zwischenmenschliche Liebe aufgefangen werden.

Dieser schleichende Prozess macht sich in den kleinstädtischen Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen durch steigenden Druck und zunehmenden Machtmissbrauch der Arbeitgeber bemerkbar und nimmt in der Großstadt bzw. in mittelständischen Betrieben System an. Mit der Einführung von Verkaufsquoten findet eine vollständige Ökonomisierung des Angestelltenverhältnisses statt und macht ein "resonanzsensibles" Leben, im Sinne Hartmut Rosas, gänzlich unmöglich.

In Anbetracht dieser existenziellen Pervertierung, charakterisiert Fallada unterschiedlichste Phänotypen und Verhaltensmuster: 1. Die "Initiatoren", wie der Personalchef Lehmann, der später an seiner eigenen Unlauterkeit scheitern wird. 2. Die "Mitläufer" und "Denunzianten", wie der Substitut Jähnike und der Angestellte Kessler, die als Anhänger der Nationalsozialisten das System mit zum Einsturz bringen. Und 3. die "Widerständler" wie Pinnebergs Freund und Kollege Heilbutt, der ihm hilft, seine Quote zu erfüllen und als Anhänger der Freikörperkultur alternativen Lebensformen nachgeht.

Fallada zeichnet nach, wie aus dem Gefühl der Entfremdung eine politische Katastrophe erwächst. Die Schlüsselstelle dafür findet sich auf Seite 232: " [...] Sie wollen ja doch, dass sie anständige Menschen haben. Aber was sie jetzt machen, mit den Arbeitern schon lange und mit uns nun auch, da ziehen sie lauter Raubtiere hoch und da werden sie was erleben, Junge, sage ich dir!" "Natürlich werden sie was erleben", sagt Pinneberg. "Die meisten bei uns sind ja auch schon Nazis." Hier findet sich literarisch verarbeitet, was bei Peukert Ergebnis der historischen Analyse ist.

Gleichzeitig verweist Fallada mit dem Plot über die Freikörperkultur darauf, dass die Moderne nicht nur eine Tendenz zur Entfremdung, sondern zugleich zahlreiche Gegenbewegungen hervorbringt. Der Nudismus steht dabei für eine gemeinschaftliche (und entsexualisierte) Nacktheit, mit der Resonanzsensibilität gestärkt bzw. Resonanzkälte abgebaut werden soll. Als erweiterter Naturismus steht dieser in der Tradition der Lebensreform, deren Ursprünge in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen.

Was nun?

Wer heute durch die leeren Straßen von Berlin läuft, bekommt eine Vorstellung davon, wen diese Krise als erstes trifft: Die Armen, Schwachen, Kranken, Einsamen, Alten und Obdachlosen. Wenn der "Lockdown" in eine anhaltende Rezession übergeht, werden auch gesündere und jüngere Menschen darunter leiden, insbesondere die prekär Beschäftigten (alle, die auf Zeit, schwarz, im Rahmen befristeter Verträge, nicht organisiert bzw. außerhalb von Tarifverträgen arbeiten), sowie Joblosen und neu auf den Arbeitsmarkt Drängenden.

Um das zu verhindern, sind die Regierenden dieser Welt aufgerufen, schnell und pragmatisch zu handeln (was in dem einem Land besser und in dem anderen Land schlechter funktioniert - Deutschland scheint hier gut abzuschneiden, was sicherlich auch damit zu tun hat, dass der Staatssäckel gut gefüllt ist, nicht zuletzt dank niedriger Zinsen auf Staatsanleihen in den letzten Jahren). Doch wie lässt sich dieses Momentum staatlicher Autorität nutzen, um nicht nur das System vor dem Kollaps zu bewahren, sondern auch die Weichen für eine echte Transformation zu stellen?

Antworten auf diese Frage liefert Maja Göpel's Buch "Unsere Welt neu denken" (2020). Die Mitbegründerin der Science for Future (S4F) Bewegung lädt dazu ein, "die Zukunft neu und ganz anders in den Blick zu nehmen". Explizit weist Göpel darauf hin, dass es sich nicht um ein "Klimabuch" handelt, denn, so wie Peukert geschichtswissenschaftlich und Rosa soziologisch, reflektiert sie das Wachstumsparadigma aus der Perspektive der Politischen Ökonomie: Es geht ihr um Ideen, Strukturen und Regeln, die in Jahrhunderten von wirtschaftliche Theorien, Dogmen und Denkweisen geprägt wurden; und nun generalüberholt werden müssen.

Geradezu prophetisch gibt sie in der Einleitung den Hinweis, dass Umbrüche des Denkens "typischerweise in Krisenzeiten" geschehen. Dass kurz nach dem Erscheinen des Buches eine weitere Krise mit verheerenden Folgen (weltweite Aussetzung von Grundrechten, Rezession und Massenarbeitslosigkeit, milliardenschwere Hilfsprogramme) ausbrechen würde, damit hat die Autorin sicher nicht gerechnet. Ändert dies etwas am Befund? Wohl kaum. Die globalisierte Welt leidet an einer sich ständig wiederholenden "Überhitzung", ausgelöst durch die Steigerungslogik moderner kapitalistischer Gesellschaften.

Kurzfristig kann auf diese Krise reagiert werden, indem mit Rettungsschirmen und Investitionsprogrammen die richtigen Anreize gesetzt werden, d.h. nachhaltige Industrien und Technologien noch stärker fördern (und sich gegen Lobbyisten des fossilen Produktionszeitalters zur Wehr setzen), soziale Sicherungssysteme und funktionierende Krisenmechanismen (wie z.B. das Kurzarbeitergeld) skalieren und die Europäische Union am Prinzip der länderübergreifenden Solidarität neu ausrichten (das heißt: Eurobonds einführen, Strukturfonds ausbauen).

Langfristig müssen neue Wege gefunden werden, um mit dem Planeten, miteinander und mit sich selbst im Einklang leben zu können. Dafür brauchen wir Rahmenbedingungen, die in einem größerem Umfang auf Resonanz, Empathie und Nachhaltigkeit ausgerichtet sind.

* gerne den Kommentarbereich für weitere Literaturempfehlungen nutzen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Westermann

.. schreibt hier über Migration-Klima-Krisen und anderes Gedöns.

Robert Westermann

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