Angela Merkel und das bürgerliche Deutschland

Von Robert Zion Ein Plädoyer für das progressive Bürgertum

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Ein Gespenst geht um in Deutschland. Das Gespenst der „bürgerlichen Mitte“. Beinahe keine Gazette, die nach der Urwahl der Grünen nicht schon wieder die „Verbürgerlichung der Grünen“ ausgemacht hat. Umweltschutz sei schließlich bewahrend und bewahrend heißt konservativ und konservativ ist „bürgerlich“.

„Bürgerlich“ nennen sich auch CSU/CDU/FDP selbstbeschreibend und „bürgerlich“ ist selbstverständlich auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ja auch in Umfragen regelmäßig die höchsten Beliebtheitswerte erhält.

Die mediale Öffentlichkeit und große Teile der Politik scheinen vollständig vergessen zu haben, dass es in Deutschland auch einmal ein linkes bis links-libertäres Bürgertum gegeben hat und aller Voraussicht nach auch weiterhin geben wird.

Und so ergeht sich der öffentliche Diskurs im Land in ahistorischen Mythenbildungen. Das Bürgerliche ist Konservativ, das Konservative die Mitte und die Mitte das Zentrum der Gesellschaft. Die Union ist ja schließlich auch Erbe der Zentrumspartei.

Als sich übrigens am Anfang der Weimarer Republik die Deutsche Demokratische Partei als starke politische Repräsentanz des linken und progressiven Bürgertums im Kampf um die „Mitte“ dem Zentrum andiente, verlor sie gegen Ende Weimars vollständig ihre Bedeutung – auch als politische Stimme eines in Deutschland blühenden und enorm einflussreichen kulturellen und wissenschaftlichen jüdischen Lebens.

Nach dem Krieg war es endgültig damit aus. Die Mitte der Gesellschaft definierte sich nun über Wohlstand durch Wachstum, rein ökonomisch. Ein „radikal ökonomisches Gemeinwesen“ nannte der französische Philosoph Michel Foucault die Bundesrepublik Deutschland darum auch bereits in den siebziger Jahren. Und wie um diese These Foucaults immer wieder zu bestätigen, pflegt Angela Merkel einen geradezu ökonomistischen Regierungsstil. Und dabei noch nicht einmal gut. Wie mittelalterliche „Ärzte“ glaubt sie Aderlässe für ganz Volkswirtschaften verordnen zu müssen, um das böse Blut der Wettbewerbsunfähigkeit aus den – meist südlichen – Gesellschaften Europas zu lassen.

Diese Kanzlerin führt daher eine der schlechtesten Regierungen, die die Republik je gesehen hat. Und sie ist im Kern nicht wertkonservativ, sie ist neokonservativ. Die katholische Soziallehre, der Kampf Walter Euckens gegen den Konzern- und Monopolkapitalismus, das soziale Gewissen der evangelischen Industrie- und Sozialpfarrämter im Ruhrgebiet sind ihr fremd. Starr folgt sie der Ideologie des Neoliberalismus und der Betriebswirtschaftslehre, gipfelnd in Austeritätsdiktaten über europäische Bevölkerungen und politische Diktate über Führungen anderer Länder. Diese Kanzlerin ist daher in Wirklichkeit nicht führungsstark, sondern führungsschwach.

Solange die Folgen dieser Politik noch nicht spürbar hierzulande angekommen sind, mag dies noch als „Mitte“ durchgehen, ihre Beliebtheit weiter steigern. Und mögen Leute, wie der Präsident des Verbandes der chemischen Industrie in Deutschland Klaus Engel noch so sehr „systematische Zuwanderung“ fordern, die Kanzlerin führt keine Diskurse darüber und lässt es stattdessen zu, dass die Demografiedebatte zu einem verkappten völkischen Diskurs wird.

Dabei reden wir noch nicht einmal von dem gesellschaftspolitischen schwarzen Loch dieser Regierung, der Ignoranz gegenüber der Frage, wie die Institutionen dieser Gesellschaft jenseits des protestantischen Arbeitsethos und den Theorien Friedrich August von Hayeks in Zukunft überhaupt aussehen sollen.

Das Asylrecht, das Laufenlassen des offensichtlichen Versagens der Behörden im Angesicht des Rechtsterrorismus und nicht zuletzt die sich als Interessengeschacher zeigende EU-Politik entwickeln sich sogar so langsam zur Schande für dieses Land - eine historische Betrachtungsweise einmal vorausgesetzt.

Dies alles soll also „bürgerlich“ sein, erstrebenswert, der potenzielle Koalitionspartner, die „Mitte“, nach der angeblich alle streben? Nein, das bürgerliche Deutschland hat eine aufwühlende und in Teilen schlimme Geschichte hinter sich, es hat mehr Bewusstheit, mehr Rationalität und im Übrigen auch eine Zukunft verdient. Eine Zukunft jenseits der Selbstdefinition allein über die Steuerklärung.

Es wird allmählich Zeit, dass sich die Bürger in der Republik verbitten von solch einer Politik vereinnahmt zu werden, dass sie damit anfangen, dieses Land auch wirklich als Republik zu gestalten und nicht nur als Produktionsstätte und Warenhaus mit angeschlossener Deutscher Bank betrachten. Und sich ansonsten mit „Wertedebatten“ abspeisen lassen. Es wird Zeit, dass wir uns den Begriff des Bürgerlichen wieder zurückholen.

Robert Zion ist Grünen-Politiker aus NRW und im dortigen Landesvorstand

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden