Die „Soziale Marktwirtschaft“ à la Foucault (Teil 1)

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Eines scheint in den Debatten, die angesichts der Ursachen und Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise gegenwärtig in Deutschland geführt werden, eindeutig: Das Übel lag im Finanzkapitalismus angloamerikanischer Prägung, in der Profitgier und im Spekulationswahn, gestützt von einem neoliberalen Dogma der Deregulierung und des von den Staaten unberührten freien Spiels der Marktkräfte.


Doch die Antworten, die die Politik und die Wirtschaftswissenschaften hierzulande noch zu geben imstande sind, kommen einem mehr als vertraut vor, es sind die Leit- und Kernsätze der bundesrepublikanischen Wirtschaftsverfassung, seit je her auch Basis wie Ziel des Staates an sich: Markt, Wettbewerb, staatliche Rahmensetzung, Wachstum.


Der Neoliberalismus ist also tot – es lebe der Neoliberalismus!


Um die Schlüssigkeit dieser vermeintlich widersprüchlichen Aussage zu verstehen, ist es notwendig, sich genauer die Typologie und Ursprünge neoliberalen Regierungshandelns anzuschauen. Dies hat der französische Philosoph und Historiker Michel Foucault bereits 1978-1979 in einer Vorlesungsreihe am Collège de France getan und damit zugleich eine heute noch erstaunlich aktuell wirkende Charakterisierung der bundesrepublikanischen Staatsräson entlang jenes Legitimationsdiskurses vorgelegt, den die deutsche Gesellschaft über sich selbst um den Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft“ führt: „Die Geschichte hat den deutschen Staat verneint. Künftig wird die Wirtschaft in der Lage sein, seine Selbstbehauptung zu ermöglichen. Das kontinuierliche Wirtschaftswachstum wird eine erloschene Geschichte ablösen.“ –„Wir haben im zeitgenössischen Deutschland einen Staat, den man einen radikal ökonomischen Staat nennen kann, wenn man ‚radikal’ im strengen Sinne des Begriffs versteht: Seine Wurzel ist vollkommen ökonomisch.“ (S. 126)*


Nach Foucault gibt es zwei Hauptstränge neoliberaler Regierungstechniken und Legitimationsdiskurse – eben den Anarcho-Kapitalismus anglo-amerikanischer Prägung und den deutschen, „Soziale Marktwirtschaft“ genannten Neo- oder Ordoliberalismus -, die jeweils die entscheidende Frage nach der Weltwirtschaftskrise in der Folge von 1929 (die wie die heutige Krise im Kern eine Akkumulationskrise des Kapitals gewesen ist) auf ihre je eigene Art und Weise beantworten. Den Neoliberalismen geht es darum, „zu zeigen, dass Kapitalismus noch möglich war.“ (S. 233)


Foucault weiter: "Da es sich herausstellt, dass der Staat auf jeden Fall wesentliche Mängel hat, und nichts beweist, dass die Marktwirtschaft solche Mängel aufweist, können wir von der Marktwirtschaft fordern, dass sie an sich nicht das Prinzip der Begrenzung des Staats sein soll, sondern das Prinzip der inneren Regelung seine ganzen Existenz und seines ganzen Handelns. (...) Anders ausgedrückt, es soll sich vielmehr um einen Staat unter Aufsicht des Marktes handeln als um einen Markt unter Aufsicht des Staates." (S. 168)


Es gibt also den radikal ökonomischen Staat, das Gemeinwesen als Wohlstandsversprechen mit seinen nach wie vor gültigen Leitsätzen der fünfziger Jahre: „Wohlstand für alle“ –„Nur keine Experimente“. 1989 übrigens wurde dieses Versprechen im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands mit den „blühenden Landschaften“ erneuert.


Und es gibt eine vom Obrigkeitsdenken getragene Kanzlerin, die fortan in Krisenzeiten den deutschen Neoliberalismus expansiv in die Welt tragen, ja, dieser hiermit (erneut) eine deutsche „Lektion“ erteilen will, wie sie es der Welt in ihrer Neujahrsansprache verkündet hat: „Der Staat ist der Hüter der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung. Der Wettbewerb braucht Augenmaß und soziale Verantwortung. Das sind die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft. Sie gelten bei uns, aber das reicht nicht. Diese Prinzipien müssen weltweit beachtet werden. Erst das wird die Welt aus dieser Krise führen. Die Welt ist dabei, diese Lektion zu lernen.“


(wird fortgesetzt)


* Alle Zitate mit Seitenangabe aus: Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität 2. Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978/1979: II, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2004.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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