Die beschnittene Debatte

Beschneidung - Zur Entscheidung des Bundestages

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„Der Gott, an den ich nicht glaube, ist ein jüdischer“

David Ben-Gurion (erster Premierminister Israels)

Seinen „Unglaubensgenossen“, so nannte Sigmund Freud, der atheistische Jude, einmal den anderen Juden Heinrich Heine. Zuweilen bezeichneten diese sich, wie etwa der Dichter der Toleranz Gotthold Ephraim Lessing im "Spinozastreit" auch, als "Pantheisten". Ebenso Albert Einstein. Zweifellos gibt es in der europäischen Aufklärung bis heute, bis zu Jacques Derrida und Judith Butler, eine große Tradition der Beeinflussung prägender Linien dieser Aufklärung durch aus dem Judentum stammende Philosophen, Wissenschaftler und Künstler. Die Diaspora, die Zerstreung der Juden vor allem über Europa, über die Jahrhunderte und jeweiligen Mehrheitskulturen hinweg, war so gesehen vielleicht auch eine Hochzeit für die jüdische Kultur und ihres keineswegs auf Religion beschränkten komplexen Charakters, trotz aller Verfolgungen, Pogrome und Vorschriften der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

Nach „Auschwitz“, das der jüdische Philosoph Jean-François Lyotard im Sinne Kants als „Geschichtszeichen“ deutete, dem keinerlei historisches Resultat aus der Dialektik der Geschichte mehr folgen könne, brach diese Traditionslinie hierzulande ab. Die „Endlösung der Judenfrage“, die in der Tat auch als eine solch endgültige Auslöschung gedacht war, hat in Deutschland diese Traditionslinie ein für allemal durchkreuzt. „Seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, Schlimmeres fürchten als den Tod“, schrieb Adorno, der demgemäß auch nur noch eine negative Dialektik in der Geschichte wiedererkennen konnte.

Fortan bedeute Jude sein in Deutschland, nur noch Teil einer religiösen Minderheit zu sein, selbst, wenn die Religion keinerlei Rolle mehr für diese Menschen spielte. Gerade diejenigen, die sich mit der Geschichte des Landes der „Dichter und Denker“ vor allem unter dem Gesichtspunkt der enormen Einflussnahme von jüdischen Intellektuellen von Mendelssohn bis Freud identifizieren konnten, mit dem Denken etwa der vollständigen Immanenz Gottes in der Welt und immer an den Grenzen unser Erkenntnis sich bewegend, gerade für diejenigen blieb und bleibt aber weiterhin die historische Identifikation mit dem Judentum unumgänglich.

Darum ist es viel zu einfach von einem „jüdisch-christlichen“ Kulturkreis zu reden (es ist sogar falsch), ebenso, wie es viel zu einfach wäre, säkularisierte Juden nur als religionslos darzustellen und es ist grob vereinfacht, das Judentum in Deutschland einfach nur als eine von vielen gleichberechtigten Religionsgemeinschaften zu sehen. Dabei geht es keineswegs um „Schuld und Sühne“, es geht um das, was Michel Friedman jüngst in der Beschneidungsdebatte das „Fremde, das erst einmal Angst und Abwehr hervorruft“, genannt hat. Das Judentum ist nicht das Christentum quasi in seinen Kinderschuhen, es hat sich nicht nur in der absoluten Transzendenz Gottes einen zutiefst nicht-christlichen Kern bewahrt, es hat längst ebenso einen historischen und dabei höchst diesseitigen Charakter angenommen.

Man ist nicht nur Jude durch Beschneidung, durch Aufnahme in die Religionsgemeinschaft, man ist auch Jude durch die Familiengeschichte, den Namen, oftmals auch durch die bewusste Wiederaneignung der jüdischen, eben keinesweg allein religiös geprägten Traditionslinien. Man ist auch Jude, wenn man versteht, dass es nicht nur um den Schutz von Minderheiten geht - darum geht selbstverständlich auch -, sondern auch um eine entscheidende Bereicherungen der Mehrheit durch die Minderheit, nicht durch Anpassung, sondern gerade durch das Fremde, das Abweichende: die Differenz.

Es bedarf keiner allzu großen Abstraktionsleistungen, um zu begreifen, dass das, war für die Juden in unserem Kulturkreis und unserem Land gilt, einmal ebenso für Muslime gelten sollte und gelten wird. Die fast vollständig mehrheitsgesellschaftlich-christlich geführte Beschneidungsdebatte hat nur wenig Kenntnis, gar Verständnis für das je eigene der „zur Debatte“ stehenden Minderheiten offenbart. Hinter der Emphase für die Rechte des Kindes verbarg sich nicht selten die Ablehnung alles Religiösen schlechthin. Wie so oft bei Symbol- und Wertedebatten in diesem Land auf dem Rücken von Minderheiten ausgetragen. Dass dabei aber - rechtspositivistisch und medizinisch überdeckt - zuweilen urchristliche Vorstellungen von der Heiligkeit und damit impliziten Entkörperlichung des Körpers perpetuiert wurden, wird wohl nur dem aufgefallen sein, dem eine ernstzunehmende Metaphysik- und Religionskritik aus unsere Geschichte auch vertraut ist.

Und es ist eben kein Zufall, das diese – von Spinoza bis Sigmund Freud – von Juden entscheidend geprägt wurde. Darum gilt es immer wieder daran zu erinnern: Die Shoah hat viel mehr in diesem Land vernichtet, als das Leben von Millionen Menschen. Die Entscheidung des Bundestags lässt zumindest die Möglichkeit offen, dass dies einmal wiederkehren könnte.

[Nachtrag 29.12.2012]
Der Autor dieser Zeilen ist Spinozist, ebenso wie S. Freud, A. Einstein, Golda Meir oder David Ben-Gurion. Wer in der Geschichte des jüdischen und jüdisch geprägten Denkens nicht bewandert ist, dem mag die Figur der absoluten Transzendenz Gottes ebenso wenig vertraut sein, wie deren modern-säkulare Variante der vollständigen Immanenz Gottes in der Welt. Darum sei auf die Neuauflage von Yirmiyahu Yovels "Spinoza. Das Abenteuer der Immanenz" (Steidl 2012) verwiesen, in dem die geistesgeschichtlichen und historischen Hindergründe herrausragend dargelegt sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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