Die Piraten: Legitimation durch Verfahren

Machtfragen - Wohin steuert das Piraten-Schiff und warum?

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Mit seiner These, die Piraten würden längst daran arbeiten, die Grünen zu beerben, hat sich der Autor Steffen Kraft im Freitag weit aus dem Fenster gelehnt. Bei allem Erneuerungsbedarf für die Demokratie fehlt den Piraten nämlich eines: Ein normatives Zentrum jenseits von Verfahrensfragen, von dem aus überhaupt erst eine eigenständige Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen möglich ist.

Von Robert Zion

Kleinere Parteien jenseits von SPD und CDU/CSU teilen in der Regel ein besonderes Merkmal. Allein vom Umfang ihrer politischen Repräsentanzfunktion her können sie sich garnicht als „Volksparteien im Kleinen“ aufstellen; sie müssen für sich ein normatives Zentrum bilden und als Programm- und Konzeptparteien definieren. Ob es nun die Ökologie bei den Grünen ist, der Wettbewerb bei der FDP oder der Sozialismus bei der Linken, von solch einem Zentrum aus entwickeln diese Parteien dann ihre jeweiligen analytischen Grundmuster und dehnen diese auf alle Politikbereiche aus. Im Idealfall nehmen sie dann in Bündnissen die Rolle des strategischen Partners und Korrektivs eines der beiden großen Parteien ein.

Neue Parteien entstehen in der Regel dann, wenn die beiden Großen gesellschaftlich relevante Fragestellungen nicht mehr bearbeiten können oder wollen und konzeptionelle Lücken hinterlassen. In der Tat gibt es derzeit eine riesige Lücke, die SPD und CDU/CSU nicht mehr konzeptionell bearbeitet und ausfüllen können: Das neue Akkumulationsregime des Postfordismus und den damit einhergehenden tiefgreifenden Wandel der Arbeitswelt, kurz: Die Transformation von der Industriegesellschaft in einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Und derzeit könnte man tatsächlich annehmen, dass das gesamte Parteiensystem an der Aufgabe der Wahrnehmung und demokratischen Bearbeitung dieses Transformationsprozesses scheitert. Einzig den Finanzmärkten, also dem Vermögensbesitz, scheint es zu gelingen, dies wahrzunehmen. Längst haben diese verstanden, dass gesellschaftlicher Reichtum nicht mehr durch individuelle Arbeit und entsprechende Besitzaneignung entsteht, sondern, dass gewissermaßen die gesamte Gesellschaft in Produktion gesetzt ist. Darum auch nehmen sich die Finanzmärkte nun gesamte Gesellschaften vor, um den Mehrwert abzuschöpfen. Dass es ihnen dabei nicht gelingt, dafür irgendein Maß zu finden, ist im Übrigen der Kern der derzeitigen Krise.

Die Zukunft unserer Demokratien wird sich an dieser Frage entscheiden – und es ist eine soziale Frage.

Die Frage, wie es dann mit der innerparteilichen Willensbildung im Besonderen und dem Zustand der Demokratie im Allgemeinen bestellt ist, betrifft dann naturgemäß alle Parteien. Und zwar insofern, ob dann die Parteien und die Demokratie als Ganzes überhaupt noch dazu fähig sind, diese Frage als soziale Frage zu identifizieren: Wie organisieren wir den „Wohlstand für alle“, also lösen wir das Versprechen einer sozialen Marktwirtschaft wieder ein, wenn es nicht mehr um die Aneignung individueller Arbeitseigebnisse geht, sondern um „Zugang zu“ und „Teilhabe an“ gesellschaftlichen Mehrwertergebnissen. Je nach Wertekanon und normativem Zentrum bearbeiten alle drei kleinen Konzeptparteien dieses Thema schon längst. Es gibt das weiterhin im Wettbewerbs- und Konkurrenzdenken verhaftete „liberale Bürgergeld“ der FDP, es gibt bei Grünen und Linken bereits lange Debatten über Grundsicherungs- und Grundeinkommensmodelle, denen allesamt der Gedanke zugrunde liegt, vom nachgelagerten und fürsorgenden Sozialstaat zum garantistischen übergehen zu müssen.

Sicher, wenn Politik nur als Prominenz-, Kommunikations- und Oberflächenphänomen wahrgenommen wird, könnte man zuweilen einen anderen Eindruck gewinnen. Das, was Parteien an vorderster Linie ihrer Programmatik entwickeln, findet in der Regel nicht seinen Niederschlag in Talkshows und Leitartikeln. Und in Wahlkämpfen wird den verunsicherten Bürgern auch nicht gerne erzählt, dass sich erst vieles grundlegend ändern muss, damit einiges auch so bleiben kann, wie es ist. Die Erfahrungen mit der vollkommen verfehlten Politik der Agenda 2010 tut hierbei ihr übriges. Darum und nur darum gibt es jetzt die Piraten in den Parlamenten. Bei ihnen findet sich inhaltlich nichts, was nicht bereits in den anderen Konzeptparteien diskutiert worden wäre und mit der „copy and paste-Funktion“ übernommen werden könnte – und im Übrigen oft ja auch so übernommen wurde.

Dies wird nur so lange funktionieren, wie die Piraten auf der Welle eines reinen Oberflächenphänomens getragen werden. In Bezug auf die Grünen heißt das, so lange sie im Einklang mit dem Massenmedien den Eindruck erwecken, die Grünen bestünden nur aus ihrem Spitzenpersonal und alles andere, vor allem der normative Kern ihrer Politik, sei im allgemeinen Machtpoker disponibel. Und gerade vom Machtpoker aus gesehen ist es dann natürlich kein Zufall, dass ausgerechnet die Konservativen besonderes Interesse an den Verfahrensfragen und vermeintlich „frischen Wind“ vorgeben, den die Piraten in die Politiklandschaft bringen. Das Akkumulationsregime des Postfordismus verlangt ein anderes Sozialstaatsprinzip, eine Redefinition unseres Arbeitsbegriffs und einen weit stärkeren Durchgriff des Staates auf den Vermögensbesitz. Damit Verbunden ist die ökologische Abkehr vom Wachstumsdogma und damit auch der Zerfall eines der normativen Zentren der beiden Volksparteien. Dies sind alles Machtfragen in der Gesellschaft, weder Verfahrens- noch Kommunikationsfragen.

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Machtpolitisch repräsentieren die Piraten zweifelsohne eine kleine Gruppe eines digitalen, männlichen dominierten Bürgertums, sind sie ein Phänomen der Wissens- und Dienstleitungsgesellschaft. Aber, was will die digitale Bohème, ja nicht durch sich selbst in die Parlamente gehoben, sondern in der Masse durch Protestwähler? Als ästhetisches Phänomen, als Phänomen des Lebenstils und des Lebensgefühls fügen sie der sozialen Frage nichts Neues hinzu. Als machtpolitisches Phänomen fallen sie aus, solange sie kein eigenes normatives Zentrum entwickeln und in Bündnisfragen derart unverbindlich bleiben. Bleibt nur das Image einer neuen „Anti-Parteien-Partei“. Mit einem solchen treten allerdings auch konservative „freie Wähler“ oder „Bürgerbündnisse“ auf. Der Unterschied liegt dann oft nur in der je eigenen Lebenswelt und in der Technologie-Affinität. Und mit dem „Wir sind nicht links, wir sind nicht rechts, sondern vorne“ haben sich in Vergangheit auch schon so manche Grüne um die Machtfrage herumzudrücken versucht.

Im nächsten Jahr jedenfalls wird im ökonomisch bei weitem stärksten Land Europas gewählt und damit eine weitreichende Entscheidung getroffen, ob auf die gegenwärtige Krise unseres Akkumulationsregimes – und damit Verbunden der Überakkumulation des Vermögensbesitzes – überhaupt noch eine demokratische, soziale und ökologische Antwort gefunden werden kann. Nicht mehr viel Zeit für die Piraten, sich einige politische und ökonomische Grundfragen zu stellen und diese für sich zu klären. Und bezüglich solcher Grundfragen ist das Herkunftsland der Piraten Schweden, wo diese bereits auch wieder im Niedergang begriffen sind, vielleicht weit interessanter als die Piraten selbst. Denn in der dortigen Staatsquote und den dortigen sozialen Institutionen könnte die Antwort für Europa liegen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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