Geschichte und Eigensinn

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Das Land braucht linke Korrekturen und einen demokratischen Neuaufbruch. SPD, Grüne und Linkspartei dürfen sich daher einer Umsetzung ihrer ähnlichen Forderungen in gemeinsamer Regierungsverantwortung nicht länger verweigern.


Dass der politische Willenbildungsprozess in Parteien stattfindet und dass Parlament und Regierung Repräsentanten der Bürger sind und nicht deren Führung, dies mag alles banal klingen – dennoch sollten sich die Parteien des Mitte-Links-Lagers gerade in Zeiten abzusehender Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise vor allem daran erinnern. Die Lage ist ernst. Zu ernst, um nun den harten Kampf um Wählerstimmen im linken Lager mit den üblichen wahltaktischen Winkelzügen zu bestreiten.


Die vollkommene Abhängigkeit Deutschlands von Exportüberschüssen im Einbruch der Weltkonjunktur, zu erwartende Massenarbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen, der Einbruch der Steuereinnahmen und dies rasant ansteigende Überschuldung der öffentlichen Haushalte – dies alles verlangt nicht nur die bisherige Krisenpolitik auf Sicht, Beschwichtigungen und weitere Aufschübe, sondern in der Tat massive Korrekturen an der politischen Agenda der Republik.


Es ist nicht zuviel gesagt, von der derzeitigen Krise als einer historischen Situation zu sprechen. Die Bundesrepublik Deutschland, als Gemeinwesen seit je her eher ein Wohlstandsversprechen als eine politisch fest verankerte Republik, steht vor Herausforderungen, die denen, an denen die erste deutsche Republik zerbrochen ist, nicht ganz unähnlich sind: Der Angst vor dem sozialen Absturz und der Perspektivlosigkeit und der politischen Apathie.


In Krisenzeiten, in solch tiefgreifenden wie der gegenwärtigen zumal, finden normative Setzungen für die Gesellschaft statt, die entlang von grundlegenden Fragen erfolgen. Sind unsere sozialen Sicherungssysteme so konstruiert, dass ihre Finanzierung und ihre Grundprinzipien der Krise in ihrer noch nicht abzusehenden Dauer und Wucht überhaupt standhalten? Gibt es Ansätze, ja, überhaupt den politischen Willen dazu, die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte auszugleichen, Überkapazitäten in den exportabhängigen Industriesektoren abzubauen und einen wirtschaftlichen Strukturwandel einzuleiten?


Macht es überhaupt noch Sinn, weiter eine Arbeitsmarktpolitik zu verfolgen, die ganz auf die Beschäftigungswirksamkeit des Wachstums ausgerichtet ist, wenn dieses Wachstum auf unabsehbare Zeit ausbleibt? Wird die zunehmende Perspektivlosigkeit von immer mehr Menschen durch die ohnehin längst nachgewiesene soziale Selektion unseres Bildungssystems eigentlich abgemildert? Die Antwort auf alle diese Fragen lautet schlicht: Nein. Jedenfalls solange sich SPD, Grüne und Linkspartei weiterhin weigern, gemeinsam die Verantwortung zu übernehmen.


Dabei war von einem gerechterem Steuersystem, von der Regulierung der Finanzmärkte oder von der Frage, wer überhaupt die enormen Kosten der Krise in Zukunft trägt, noch gar nicht die Rede. Solcherlei ökonomischen und sozialen Grundfragen werden in naher Zukunft sämtlich in eine einzige Frage einmünden, in die nach der Erneuerungsfähigkeit unserer Demokratie aus sich selbst heraus, in die Lösungskompetenzen, ja, den Lösungswillen unseres Parteiensystems.


An den Programmen und Forderungen der Parteien im Mitte-Links-Lager würde ein solcher Neuaufbruch nicht scheitern. Im Gegenteil: Der Paradigmenwechsel in den Sozialversicherungen hin zur Bürgerversicherung und garantierten Grundsicherungssystemen, ein integrierendes statt selektierendes Schulsystem, Mindestlöhne, Börsenumsatzsteuer, staatliche Investitionslenkung in eine ökologische Transformation der Wirtschaft, Verstaatlichung oder Teilverstaatlichung des Bankensystems und ein Umstrukturierung auf Gemeinwohlorientierung, mehr Demokratie und Mitbestimmung auch in der Wirtschaft, eine höhere Besteuerung von Vermögen und Erbschaften usw. Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und Linkspartei nach der kommenden Bundestagswahl kämen in der Tat in weiten Teilen einer Neugründung der Republik gleich.


Entweder es wird eine solidarische Antwort auf die Krise geben oder deren Folgen werden das Solidarprinzip in dieser Gesellschaft hinwegfegen. Ein Linke, die dies jetzt nicht versteht, ja, noch nicht einmal wahrzunehmen scheint und an einem solchen Wendepunkt in Eigensinn verharrt, wäre es nicht wert noch so genannt zu werden. Jetzt die Differenzen zwischen SPD, Grünen und Linkspartei im Wahlkampf hochzuspielen und die Gemeinsamkeiten zu verschweigen, hieße den eigenen Grundwerten und Lösungskompetenzen nicht mehr zu trauen, sich damit jeglichen politischen Ernstes und der Verantwortung für diese Demokratie zu entledigen.


„Die Logik des Kapitals wird uns nämlich nicht sagen, wie einer seiner Lebendigkeit verwirklicht“, schrieben Oskar Negt und Alexander Kluge 1981 in „Geschichte und Eigensinn“. Wer würde dies jetzt noch ernstlich bestreiten? Die Logik dieser Krise wird uns vor Augen führen, wie lebendig eigentlich die politische Linke in der Bundesrepublik noch ist, ob sie aus Angst vor der eigenen Courage erstarrt, oder die Auseinandersetzung mit einem gescheiterten Neokonservativismus und Wirtschaftsliberalismus endlich offen führt und im Wahlkampf um gemeinsame Mehrheiten ringt.Sollten sich ihre Parteiführungen dagegen weiter sperren, dann sollten diejenigen, die Basis der Gesellschaft wie ihrer Parteien sind, diesen Weg eben dennoch mit Eigensinn gehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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