J'accuse …!

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Einige demokratische Anmerkungen zur gegenwärtigen Krise.

Von Robert Zion

Wie konnte es nur so weit kommen? So weit, dass ein deutscher Vorzeigeintellektueller wie Ulrich Beck, noch im selben Moment beinahe selbst etwas erschrocken von der Tragweite solch einer Aussage, von einer „vorrevolutionären Situation“ in Europa spricht. „Vorrevolutionäre Situation“ - in Europa, in den europäischen Demokratien? Aber, herrscht nicht eher eine Art Schockstarre vor, Sprachlosigkeit angesichts drohender Kürzungsrunden in den Staatshaushalten, Rezession, dem Abhängen einer ganzen Generation in Südeuropa, Parlamentsentmachtung und absehbarer autoritärer Regierungstechniken, dem Zerfall der europäischen Idee?

In den öffentlichen und politischen Diskursen wird diese Situation aufgemacht an der Krise des Euros, einer Währung und damit simplen Verrechnungseinheit. Schuld seien die Schulden, die zum Insignium der Disfunktionalität von naturgemäß schwierigen und langwierigen demokratischen, deliberativen Prozessen erklärt werden. Doch sind Währungs- und Verschuldungskrisen, samt Reformen und Entschuldungen geradezu historische Konstanten in nahezu allen Zivilisationen. Allein die Währung und die Schulden können es also nicht sein, die unsere kulturellen und politischen Grundlagen gerade derart in Bedrängnis bringen.

Es ist die Wirtschaftsordnung selbst, die in Bedrändnis geraten ist. Der Kapitalismus hat aus im Grunde recht simplen Marktbeziehungen von der Art Ware-Geld-Ware eine vollständig andere Wirtschaftsordnung von der Art Geld-Ware-Geld gemacht. „Geld heckendes Geld“ und „Plusmacherei“ hat dies bereits Karl Marx genannt und keiner – fast schon egal welcher politischer Coleur – würde dem heute noch wirklich widersprechen wollen. Ein anderer deutscher Ökonom, Walter Eucken, hatte seine Vorstellung von Marktwirtschaft bereits früh in den 30er Jahren auf der grundlegenden Differenz zwischen „Wirtschaftsordnung“ und „Ordnung der Wirtschaft“ begründet. Sowohl dem Kommunisten Marx als auch dem Sozialmarktwirtschaftler Eucken ging es dabei um dasselbe, um die Lösung des Grundproblems des Ökonomischen: Um die Verhinderung wirtschaftlicher Machtgebilde.

Wir wissen mittlerweile, dass dies weder dem real existierenden Sozialismus, noch dem - scheinbar - real dahinsiechenden Kapitalismus wirklich gelungen ist. Das Grundproblem bleibt. Strikt ökonomisch gesehen sind Verteilungsfragen daher immer Machtfragen. Bleiben wir dann weiter bei dieser Erkentnnis und bei Euckens Differenzierung, dann fällt der Befund in der Tat beunruhigend und böse aus und rechtfertigt sehr wohl Urlich Becks Befürchtung einer „vorrevolutionären Situation“. Denn dann ist es nicht der Kapitalismus, der vor dem Zusammenbruch steht, sondern die Marktwirtschaft: Die Ordnung der Wirtschaft droht zu einem Totalausfall zu werden, und zwar zugunsten der Wirtschaftsordnung. Wenn dann aber die Ordnung der Wirtschaft als kulturelle und politische Leistung ausfällt, dann wird aus Politik ein nachgeordneter Anpassungsprozess an wirtschaftliche Machtgebilde – allein das Vertragswerk des Fiskalpakts ist ja nichts weiter als eine Selbstkasteiung derjenigen, die eigentlich die Wirtschaft zu ordnen haben, sich aber stattdessen das Disziplinarwerk einer geordneten Selbstentmachtung auferlegen.

Wir stehen daher in der Vorphase umfassender politischer Destabilisierungen. Die Repräsentanten der Demokratie, die in den öffentlichen Diskursen notgedrungen auch für diese und ihren Zustand stehen, sagen dies entweder nicht oder nehmen dies noch nicht einmal war. So scheint es jedenfalls. In Wirklichkeit fehlt ihnen die Sprache dafür. Ja, wie bringe ich eigentlich den Umbruch einer Gesellschaftsordnung zur Sprache? Jedenfalls nicht nach dieser Sprache zu suchen, kommt fast schon einem systematischen Verrat an unserer zivilistorischen Tradition von Humanismus und Aufklärung gleich.

Noch einmal Walter Eucken, der im Januar 1946 in einem Gutachten an die damaligen Besatzungsmächte schrieb: „Welche grundsätzliche Entscheidung über die Wirtschaftsordnung ist zu treffen? - Diese Entscheidung darf nicht im luftleeren Raum erfolgen, sondern sie hat stets von der historischen Lage auszugehen, in der man sich befindet.“ Wie gesagt, Euckens historische Antwort war, dass die Wirtschaftsordnung nur funktioniert, wenn die Demokratie ihrer Aufgabe der Ordnung der Wirtschaft nachkommt, die Machtfrage stellt und demokratisch beantwortet. Von einer Antwort in der heutigen historischen Situation sind wir weit entfernt, weil wir nicht einmal mehr diese Frage stellen. Denn die heutige politische Klasse spricht nicht mehr.

Die moralische Anklage, das zerreißnde Gefühl von Ungerechtigkeit, der noch hilflose Appell an Tugenden und Werte, sind vielleicht Vorformen einer neuen Sprechfähigkeit unserer Demokratien. Und sprechfähig wird die Demokratie wieder werden müssen, denn absehbare politische Destabilisierungen und die diagnostizierte vorrevolutionäre Situation treffen eben unsere formalen Demokratien. Können diese ihre Idee und Substanz erhalten oder erneuern? Sind diese bereits stark genug, um nicht im historischen Orkan einfach hinweggeblasen zu werden? Können diese mit ihren eigenen Mitteln einen Umbruchsprozess organisieren? Die Ahnung davon, dass diese Fragen in der Schwebe sind, führt vorerst zur Aphatie und zum Schweigen, zur Schockstarre vor dem erahnten finalen Biss der Schlange.

Wir Demokraten müssen jetzt laut Klage führen. Das, was jetzt an politischen Entscheidungen im Angebot ist, beschränkt sich ausschließlich auf Funktionalitätsfragen in einer heillos ungeordneten Wirtschaftsordnung. Es ist dem Menschen zutiefst unwürdig und widerspricht seinem Wesen, beinahe sämtliche Aspekte seines Lebens auf Ableitungen aus solchen Funktionalitäten zu reduzieren. Unser Tätigkeitsvermögen und unsere Lebenschancen verkümmern. Einem derart ökonomistisch reduzierten Menschen wird irgendwann das Potenzial fehlen, um überhaupt noch die eigene Unfreiheit erkennen zu können. Ein derart hermetisches Gesellschafts- und Menschenbild gab es – genau genommen – noch nicht einmal im Mittelalter. Darum muss jetzt daran erinnert werden: Uns steht es vollständig frei unsere Ökonomie und unsere Gesellschaft nach unseren Bedürfnissen als soziale Lebewesen zu organisieren. Jeder, der was anderes behauptet, macht sich zum Statthalter einer überkommenen ideologischen Epoche. Und darum steht niemand in der Schuld der Banken – die können wir, wenn wir es nur wollen, streichen -, wir stehen in der Schuld unser Auklärung, die uns zu Recht auf den historischen Weg gebracht hat, die vollständige Verantwortung für uns selbst tragen und auch übernehmen zu können.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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