Nicht ganz... aber nahe dran

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Eine Replik auf Lukas Bärfuss' Beitrag "Unangenehme Tatsachen"

Die Replik ist vielleicht kompliziert in Sache, aber dennoch notwendig. Sie besteht aus These 7 meines Papiers "Schöpferische Entwicklung", das ich im Zukunftsforum meiner Partei zum Thema eingebracht habe:

7. These

Ökologischer Humanismus – Die Mannigfaltigkeit als soziales (Natur)Verhältnis. Stefan Tidow hat im Vorgang zu dieser Sitzung eine Schlüsselfrage aufgeworfen. (18) Diese Frage ließe sich auch so umformulieren: Wie gehen Gesellschaften als Ganzes (soziales Verhältnis) mit ihren Naturgrundlagen (Naturverhältnis) um und warum scheint das Gattungswesen (Lebewesen) Mensch sich gerade einen Bruch in seinem Naturverhältnis zu organisieren? Oder: Was ist ein dann notwendiger dezidiert ökologischer Humanismus? Es ist die relevant gewordene Gattungsfrage, um die nun die Entwicklungslinie des historischen Humanismus (absolute Selbstorganisation des Menschen in der Welt) ergänzt werden muss. Dabei kann es nur um eine Angleichung unserer Gesellschaften an ihre natürlichen Lebensgrundlagen, um eine „Harmonisierung“ gehen. Warum scheint uns dies bisher eigentlich misslungen zu sein, was ist schief gelaufen? Geistesgeschichtlich – und dies mag vielleicht überraschen – ist diese Frage relativ einfach, wenn auch zunächst sehr grundlegend ontologisch, anhand dreier „Alternativlinien“ zu hauptsächlichen Fehlentwicklungen zu beantworten. 1) Wir verstehen gesellschaftlich unser Handeln immer noch innerhalb des Cartesianischen Weltbildes, und zwar in der Hinsicht, als das wir die Ursachen unseres Handelns finalistisch, als die Bearbeitung der Welt nach vermeintlich in der Natur der Dinge liegenden Zwecken durch unseren freien Willen begreifen (Zweckursache). Dadurch verfehlen wir ein Verständnis der Natur als Ursache ihrer Selbst, von der wir bedingt, eben auch Wirkungen sind (Wirkursache). Unser Freiheitsbegriff ist daher zugleich zu weit (der freie Wille) und zu eng (innerhalb des kausalen Determinismus der toten Materie) gefasst und entfernt sich so von dem, was für das Lebendige nützlich ist, der „Harmonisierung“ der Kultur mit der Natur. Das Lebendige als Selbstorganisation des Materiellen aber wäre unmöglich, wenn der Determinismus, dem die Materie gehorcht, nicht in seiner „Strenge“ nachlassen könnte.(19) Freiheit hebt demnach das für das Lebendige notwendige nicht auf, sondern setzt es voraus. Es ist dies das Problem eines stark vereinseitigten sozialen Verhältnisses als Zweck-Mittel-Rationalität einer instrumentellen Vernunft. Wir „verschieben“ unser Leben daher immer auf in der Zukunft liegende Zwecke, statt es im Hier und Jetzt auszufüllen. 2) Unser Raum-Zeit-Begriff orientiert sich am rein physikalischen Begriff der toten Materie (lineare Zeit, die nur abstrakte Bewegungspunkte der Materie im Raum abbildet) und nicht am Lebendigen (das immer eine bestimmte Dauer aus sich selbst heraus hat). (20) Hieraus resultiert zivilisatorisch die Umwandlung des Lebendigen in eine lineare Anhäufung toter Materie sowie die entropische Freisetzung der in der toten Materie aufgespeicherten Energie, die mit den Kreisläufen, Dauern und Zyklen des Lebendigen in Widerspruch gerät. Es ist das Problem eines stark vereinseitigten sozialen Verhältnisses als physikalisch- technologisches Naturverhältnis. Nachhaltigkeit verlangt daher zunächst einen anderen Zeitbegriff (auch im Poltischen), der nicht linear definiert ist, sondern auf – lokalen – Kreisläufen, Dauern und Zyklen basiert. 3) Die dritte „Alternativlinie“, dass die Natur eine Mannigfaltigkeit ist, wurde bereits genannt (Vgl. 3. These). (21) Insofern lässt sich ein gesellschaftliches Verhältnis als angemessenes Naturverhältnis nur noch als ein differenzielles Gefüge denken, als eine nicht mehr hintergehbare Pluralität. Insofern sind alle „aufs Ganze gehenden“ Universalien (22) im Singular – der Markt, die Demokratie, die Technologie, die Religion, die Wissenschaft – zu hinterfragen. Es gibt lokal und temporär immer je eigene Märkte, Formen der Demokratie, angemessene Technologien etc. Ein gelungenes globales Naturverhältnis der Menschheit wird aus der mannigfaltigen Bedingtheit der Natur heraus deshalb nie eines einer mit sich selbst identischen Menschheit sein, sondern eines der Differenzen untereinander. Die Zerstörung unserer natürliche Lebensgrundlagen ist ja gerade auf eine Universalisierung (Globalisierung) unserer „westlichen“ Zweck-Mittel-Rationalität und unseres physikalisch-technologischen Raum-Zeit-Begriffes zurückzuführen.

Kurz gefasst – und durchaus im Bewusstsein darüber, hier für eine politische Runde durchaus eine ungewöhnliche Perspektive eingenommen zu haben –: Das gelungene, nachhaltige gesellschaftliche Verhältnis als Naturverhältnis, ein Ökologischer Humanismus, ist einzig und allein eine Frage der Kultur(en). Kleiner also, als mit einem tiefgreifenden kulturellen Wandel, wird es nicht zu haben sein. Die obigen Thesen haben angedeutet, dass dies wahrscheinlich im Zusammenwirken von technologischen und sozialen Innovationen vonstatten gehen wird, das in der Schaffung neuer Institutionen (23) mündet.

Aber so ist es in der Geschichte der Menschheit ohnehin immer gewesen.

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(18) Und zwar die, „inwiefern die 'Reformulierung' der ökologischen Frage als soziale Frage auch einen veränderten Blick auf die Umwelt überhaupt zur Folge hat. Denn das hieße auch, die Umweltpolitik aus einer Rückbindung an die 'Natur als Wert an sich' herauszulösen und als einen gesellschaftlich vermittelten Wert zu begreifen, der sich erst über einen Prozess der gesellschaftlichen Aneignung realisiert; kurz: als ein soziales Verhältnis.“

(19) Geistesgeschichtlich ist dies u.a. bei Giordano Bruno, Baruch de Spinoza, Henri Bergson, Horkheimer/Adorno etc. ausformuliert worden.

(20) Entsprechende Ausformulierungen einer solchen Zivilisationskritik finden sich in Philosophie und Literatur u.a. bei Henri Bergson, Marcel Proust, Friedrich Nietzsche, Henry Miller etc.

(21) Neben Leibniz, wären hier als Referenzen auch postmoderne Denker der Differenz wie J.-F. Lyotard oder Gilles Deleuze zu nennen.

(22) Historisch sollte nicht vergessen werden, dass der Eintritt in die Moderne und das Ende des mittelalterlichen Weltbildes vom Universalienstreit seinen Ausgang nahm.

(23) Es ist jetzt bereits abzusehen, dass die Verbreitung neuer Kommunikations- und Informationstechnologien einen solch tiefgreifenden kulturellen Wandel mit der Schaffung neuer Institutionen bereits eingeleitet hat.


Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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