Pommes mit brauner Soße

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Sind wir schon wieder soweit? Sarrazins Hetzereien gegen ganze Menschengruppen werden als „freie Meinungsäußerung“ verteidigt, der holländische Rechtspopulist Geert Wilders als Held gefeiert, über sechs Millionen Menschen das soziokulturelle Existenzminimum verwehrt und demonstrierende Schüler „ohne Widerstandsrecht“ zusammengeknüppelt.

Von Robert Zion

Nun mögen Deutschlands Kriegsschulden aus dem Ersten Weltkrieg just dieser Tage endgültig auf Heller und Pfennig beglichen worden sein, die nicht aufrechenbare Schuld an der systematischen Ermordungen der europäischen Juden wird aber auf ewig im Geschichtsbuch der Deutschen als Hypothek eingeschrieben bleiben. Allmählich jedoch schleicht sich um den Jahrestag der „Wiedervereinigung“ der scheinbar so spät geborenen „Nation“ (Lateinisch für „Volk“) wieder das Schema des „Wir“ und die „Anderen“ in die kulturelle und politische Alltagssprache und das Empfinden ein.

’Ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau gibt es nicht’, sagte Grube der Bild am Sonntag. Das Bauprojekt sei demokratisch ausreichend legitimiert. ‚Bei uns entscheiden Parlamente, niemand sonst’“ – so stellt der nach der Börse strebende Bahnchef Grube gleich einmal fest. Bar aller Erfahrung übrigens nach Bankenrettung und Atomdeal. Währendessend lässt sich ein Geert Wilders in Berlin feiern und sieht die Zustimmung zu dem in Buchform gegossenen Sud aus Kosten-Nutzen-Kalkül, Ressentiment, kruder Genetik und schlecht reflektierter emotionaler Abwehr von Sarrazin schon als Zeichen dafür, "dass Deutschland mit sich ins Reine kommt."

Ja, wie steht es eigentlich um die Demokratie im Lande, die jetzt einige gegen „den Islam“ am Stammtisch, gegen Demonstranten auf den Straßen, gegen Empfänger „leistungslosen Einkommens“ in Talkshows glauben verteidigen zu müssen? In einem Appell zum 20. Jahrestag der Einheit haben einige Intellektuelle gleich einmal das eigentliche Problemfeld jenseits gezielt Interessen geleiteter und leider wieder gängiger Verdummungsdiskurse umrissen: "Wir akzeptieren schlicht keine Haltung, die gesellschaftliche Verhältnisse nach Kosten-Nutzen-Erwägungen durchrechnet und Arme und MigrantInnen zur Ausschusspopulation erklärt. Dies geschieht im Kontext einer globalen Wirtschaftskrise, von der nur allzu klar ist, wer ihre Folgen tragen soll."

Eben: Wenn es kälter wird im Land werden die Plätze am wärmenden Ofen halt rarer und begehrter. Und das warme Örtchen definiert das „Man“ dann auch gerne mal namensschwanger als die schon immer gültige Leitkultur: „Ein Deutschland mit Moscheen und verschleierten Frauen ist nicht das Deutschland von Schiller und Goethe, von Händel und Bach", so Wilders, der offensichtlich keine Ahnung davon oder kein Interesse daran hat, dass Goethe beispielsweise ein glühender Verehrer des holländischen Frühaufklärers Spinoza gewesen ist, dem Wilders’ Land unzählige Denkmale hingestellt hat. Das neueste übrigens vor kurzem in Amsterdam, auf dem der letzte Satz folgenden Zitates geschrieben steht: „Es ist nicht der Zweck des http://aivakhiv.blog.uvm.edu/3272263118_c6ff7e5b8c.jpgStaates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu Tieren oder Automaten zu machen, sondern vielmehr zu bewirken, dass ihr Geist und ihr Körper ungefährdet seine Kräfte entfalten kann, dass sie selbst frei ihre Vernunft gebrauchen und dass sie nicht mit Zorn, Hass und Hinterlist sich bekämpfen noch feindselig gegeneinander gestimmt sind. Der Zweck des Staates ist in Wahrheit die Freiheit.“*

Dass diese Freiheit für alle gilt, nicht etwa nur für Erwerbstätige oder Christenmenschen, ist überhaupt erst Voraussetzung für die Legitimation eines demokratischen Staatswesens. Daraus entspringt übrigens auch das unhintergehbare Widerstandsrecht, das eine Demokratie darum auch zu verteidigen und nicht zu verleugnen hat. Es ist in Wahrheit ihre Überlebensgarantie. Jenseits dessen zeichnet sich immer mehr eine hoheitliche Verwaltungsarroganz ab, deren Kosten-Nutzen-Kalkül schon immer sehr wenig mit dem freien Gebrauch der Vernunft aller und sehr viel mit einem an Führung und Kommando orientiertem Staatsverständnis zu tun hatte. Schon die Behörde, die in der Nazizeit die Judenvernichtung organisierte, hieß „Wirtschaftsverwaltungshauptamt“ – und dies war kein Deckname.

Nun, so weit sind wir glücklicherweise noch nicht wieder. Doch „postdemokratische“ (Colin Crouch) und „nützlichkeitsrassistische“ (Wilhelm Heitmeyer) Tendenzen sind längst wieder festgestellt. Schon ist es wieder die Furcht, das nach oben Buckeln und nach unten Treten, sind es „Zorn, Hass und Hinterlist“, die in Wirtschaftskrise und Globalisierung gepflegt werden, zieht sich das wohlstandsbürgerliche Bewusstsein zunehmend in einer Art Kurzschluss zwischen emotionaler Verarmung und geistiger Vereinfachung in das scheinbar sichere Schneckenhaus eines vagen „Uns“ zurück. Solch ein – wie der oben erwähnte Spinoza heute entsetzt feststellen würde – rein an passiven Affekten orientierter „Volkswille“ führt aber unhintergehbar in die eigene Unfreiheit und den staatlichen Zwang, zukünftige „Ausschusspopulationen“ inklusive.

Die Freiheit hat in Deutschland wohl noch einen weiten Weg bis zu ihrer Ankunft zu gehen.

*Baruch de Spinoza: Theologisch-Politischer Traktat, 1670.

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Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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