Traurige Leidenschaften

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"Nie habe ich derart gleichgültige Menschen und derart triste Leidenschaften erlebt wie unter der derzeitigen Führung der Linken. Traurige Leidenschaften, die nicht vom Bewusstein der Verantwortung oder der Schwere der Aufgabe, die subalternen Klassen zu vertreten, herrühren können. Denn denen hören sie weder zu, noch hören sie überhaupt etwas: Es sind Bürokraten, Sachbearbeiter, sie sind intellektuell erschöpft." (Antonio Negri, 2006)

Als der designierte Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier noch während des Wahlabends betonte, die von der SPD mit nahezu allen Mitteln vorangetriebene Opel-Rettung habe „nichts mit Wahlkampf zu tun gehabt“, war dies nicht nur eine Lüge, sondern wirkte wie eine endgültige Bankrotterklärung der Politikmuster einer ganzen SPD-Politikergeneration.

Mit dem Wahldesaster der Sozialdemokratie bei dieser Europawahl – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa –, ist wohl eine politische Epochenwende in Europa endgültig besiegelt: das Ende der Sozialdemokratie als Volksparteiprojekt. Ihr Profil als Interessenvertretung subalterner Schichten hat sie verloren, zum Teil an die Christdemokraten, zum Teil an sich im Kern nicht minder konservativ gebende linke Parteien. Ihren einstigen Anspruch, eine linke und progressive Programm- und Konzeptpartei zu sein, lösen mittlerweile die Grünen weit überzeugender ein.

Die SPD ist Staatsverwaltungspartei geworden, personell und programmatisch nicht mehr erneuerungsfähig, ihre innerparteiliche Demokratie ist erstarrt, ihre Gesellschaftsanalyse und Lösungsmuster überholt. Die SPD ist zum Symptom eines gesellschaftlichen Transformationsprozesses geworden, der bereits vor vierzig Jahren etwa von Alain Touraine mit dem Begriff der „postindustriellen Gesellschaft“ festgestellt wurde.

Niemand drückt den personellen und programmatischen Niedergang der SPD deutlicher aus als deren Führungsduo Franz Müntefering und Frank-Walter Steinmeier. Beide stehen nicht nur für das sture Festhalten an einer überholten, industriell geprägten Normarbeitsgesellschaft, sondern auch für einen autoritären, männlich dominierten und auf Technokratie reduzierten Politikstil, der die enorme soziale Ausdifferenzierung der Arbeitsgesellschaft, ja, der Gesellschaft im Allgemeinen, mit den eigenen politischen und historischen Kategorien nicht mehr erfassen kann.

Für diese alten Herren ist Gesellschaft in erster Linie eine abgeleitete Funktion überkommener ökonomischer Theorien geworden, der Tonnenproduktion und des Arbeitsplatzausstoßes, in ihrer Wahrnehmung – aber wohl nur dort – eingezwängt in Einkommensschichten und Unternehmensgrößen, mit denen sie sich statistisch eine imaginäre „Mitte“ als vermeintlichen Anker ihrer SPD in der Gesellschaft konstruieren. Doch diesen Anker hat sie nicht mehr, bestenfalls ist sie zu einem Aufstellungsautomaten für Führungspersonal geworden, vor allem auf den unteren Verwaltungsebenen der Länder und Kommunen.

Gesellschaftspolitische Zielvorstellungen fehlen der SPD vollständig. An abgenutzten und ständig wiederholten Schlagwörtern wie „Wachstum“, „gute Arbeit“, „soziale Gerechtigkeit“ oder „Wohlstand“ jedenfalls, lassen sich diese beim besten Willen nicht mehr ablesen. Bei solcherlei abstrakten Wertesetzungen sind Christdemokraten ohnehin allemal besser, zumal die Bevölkerung nach über zehnjähriger SPD-Regierungsbeteiligung im Konkreten sehr genau erfahren konnte, was „gute Arbeit" und „soziale Gerechtigkeit“ im funktionalisierten Denken der SPD-Granden im Konkreten für sie bedeutet.

Ohne Zielvorstellungenfehlt der Sozialdemokratie eben ihr entscheidender Hebel zum in Gang setzen politisierender Prozesse: der Fortschrittsbegriff. Wohin soll denn eigentlich die Gesellschaft von einer SPD geführt werden, für die Geschichte statt Progression nur noch Erinnerung an bessere Zeiten ist, für die das starre Korsett einer Massengüter produzierenden Disziplinar-, Arbeits- und Konsumgesellschaft zum letzten Modell eigener politischer Identitätsstiftung geworden ist?

Bei dieser Europawahl konnte die SPD ihre Wähler nicht mehr „mobilisieren“, weil sie selbst nicht mehr mobil ist und die Zuhausegebliebenen immer weniger überhaupt „ihre“ Wähler sind. Der politische Charme des Funktionellen und Instrumentellen, wie auch die persönliche Überzeugungskraft des Amtsleiters und Parteifunktionärs sind halt äußerst begrenzt. Die „beschleunigte Gesellschaft“, von der einst Peter Glotz sprach, ist der Sozialdemokratie davongefahren. Es dominieren jene traurige Leidenschaften des Bürokraten und Sachbearbeiters. Der Vorschlag, Nichtwähler sollten doch bitteschön für ihre Weigerung Strafe zahlen, konnte wohl nur aus der SPD kommen.

Was die SPD eigentlich bräuchte, wäre ein mindestens achtjähriger oppositioneller Rückzug von ihrer Funktion als Staatspartei und einen radikalen Personalschnitt. Für Ersteres ist die derzeitige Führung nicht gemacht, Letzteres ist weit und breit nicht in Sicht. Und so beißt sich die sozialdemokratische Katze in den Schwanz: damit sich etwas ändern kann, müsste sich erst etwas ändern. Unter diesem Gesichtspunkt ist die fortwährende Verweigerung der Wählerinnen und Wähler, den starrsinnigen Selbstbestätigungsritualen von Steinmeier, Müntefering, Steinbrück oder Struck noch Glauben zu schenken, vielleicht sogar ein demokratischer Gnadenakt.

Dass sich in den nächsten Jahren die parteipolitischen Koordinaten hierzulande grundlegend verändern werden, scheint ausgemacht. Dass die SPD dabei noch eine positive und aktive Rolle einnehmen wird, ist bereits nahezu ausgeschlossen. Schon zeichnet sich ab, dass die SPD in den Großstädten als progressive Kraft abgelöst wird, von den Grünen, die sich immer mehr zu einer Art metropolitanen Volkspartei entwickeln. Ihre einzige Chance, treibende Kraft demokratischer Reformen in der Krise zu sein, hat die SPD bereits verspielt, eben indem sie ihre eigene Krise nicht hinreichend wahrgenommen und ausgetragen und sich so rechtzeitig selbst reformiert und demokratisiert hat.

Und da sich hier ein historischer Kreis geschlossen und hermetisch abgeriegelt hat, werden sie ohne Bilanzierung bis zur Bundestagswahl noch behaupten, dass es noch nicht so weit ist und sich jetzt über die entsprechende Strategie der nächsten Monate die Köpfe zerbrechen. Die Wahrheit aber hat keine Werbeagentur in ihrem Angebot.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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