Über alte neue Formen des Antisemitismus

Ein Zwischenbericht Über die längeren Linien des Antisemitismus

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„Die SS hat alles Mögliche getan, um die Spuren der Vernichtung zu verwischen, Oberstes Gebot war, dass keinerlei Hinweise zurückbleiben durften. Man organisiert Transporte, fährt fort zu vergasen und zu verbrennen, während die Front sich auf wenige Kilometer den Lagern nähert und die Wehrmacht auf alles angewiesen ist, was an Menschen und Material noch übrig war. Es sollte eine ‚Endlösung’ sein, die ‚Judenfrage’ ein für allemal beantwortet werden. Man durfte nicht auf halbem Wege stehen bleiben, denn es galt, dem Endlosen, dem nicht enden Wollenden ein Ende zu setzen…..“ (Jean-François Lyotard, 1988).

Es ist bei dieser Debatte immer ratsam, gleich zu Beginn den eigenen Hintergrund offen darzulegen. Der Autor dieser Zeilen trägt einen sowohl religiös als auch säkular hochgradig besetzten Namen, den Davidstern um den Hals und Spinoza im Herzen, ist aber weder beschnitten, noch würde er sich die Anmaßung erlauben, sich als „Atheist“ zu bezeichnen. Seine Einführung in die Philosophie hat er von einem Juden und einem Araber erfahren, die beide gleichermaßen eine strikt ethische Fragestellung an Letztbegründungsversuche in der säkularen Moderne des christlichen Abendlandes anlegten. Sein Jüdischsein ist also keines der Gemeinschaft oder des Bundes mit Gott, sondern eines der Erfahrung einer semitischen Unterscheidenheit avant la lettre, gewissermaßen also eines vor dem Buchstaben/dem Gesetz. Nun ist dieser Erfahrungshorizont im akkulturierten und assimilierten Judentum in Deutschland bis 1933 für sehr viele keine Seltenheit gewesen. Ein Weg der wohl mit Moses Mendelssohn begonnen hat, der zentralen Figur des deutschen Reformjudentums wie der jüdischen Aufklärung insgesamt, und der in Auschwitz nicht nur gewaltsam beendet, sondern sich damit auch rückwirkend weitestgehend deligitimiert hat. So ist es heute in Deutschland ein fremder Gedanke geworden, dass die semitische Erfahrung im christlichen Säkularismus seine besondere Beharrung und Kraft aus einer sehr spezifisch religiösen Differenz bezieht, dass es also unterschiedliche Ausprägungen des Säkularismus gibt. Auch die Formulierung dieser Erfahrung verdanken wir - bereits früh formuliert - Mendelssohn: "Meine Religion kennet keine Pflicht, dergleichen anders als durch Vernunftgründe zu heben, befiehlt keinen Glauben an ewige Wahrheiten. Ich habe also einen Grund mehr, Ueberzeugung zu suchen."

Vor diesem Hintergrund also musste der Autor in der eigenen Partei und darüber hinaus im vergangen Jahr anhand der Beschneidung eine Debatte über Antismemitismus und sogar mit Antisemiten führen. Es hat dabei keinen gemeinsamen in das Alltagswissen und der Altagswahrnehmung eingegangen Erfahrungshorizont mehr gegeben, weder der spezifischen semitischen Differenz, noch des historischen Wissens. Die Debatte wurde weitestgehend ahistorisch geführt, lediglich der Holocaust/die Shoa wurde als die mittlerweile alltagssprachlich gewordene „Moralkeule“ angeführt. Ihr Zielpunkt war schnell erkennbar: Unter der Prämisse eines christlich-mehrheitsgesellschaftlichen Säkularismus sollte eine politische Entscheidung über die zu vollziehende Ent-Scheidung religiöser Differenzen herbeigeführt werden. Wieder einmal ging es also darum, „dem nicht enden Wollenden ein Ende zu setzen“ (Lyotard). Solche Debatten, hier im politischen Raum und an den virtuellen Stammtischen des Internets geführt, sind nicht neu. Es gab sie bereits auf höchster intellektueller Ebene in der Bundesrepublik. So hatte bereits Jürgen Habermas, der sich dabei zum einen sehr wohl darüber bewusst gewesen ist, dass es im techno-wissenschaftlichen Raum unserer säkularisierten Gesellschaften eine „Legitimationsproblematik normativer Letztbegründungen“ gibt, zum anderen keine Skrupel, in seiner Abwehr alles Pluralistisch-„Postmodernen“, dem Denker der Differenz Jacques Derrida zu unterstellen, dieser „bleibe der jüdischen Mystik nahe“. Das Jüdische also als das „Irrationale“, „Mystische“ und – damit konnotiert – „Barbarische“, das „Andere“ also schlechthin.

Doch kann noch weiter zurückgegangen werden, um diese alte neue Form des Antisemitismus, der wie bei der „Beschneidungsdebatte“ im Namen des „Säkularismus“, der „Aufklärung“ und der „Menschenrechte“ auftritt, wiederzuentdecken. 1956 erinnerte der französisch-jüdische Moralphilosoph Emmanuel Lévinas daran, dass die Säkularisierung in der Tradition des Rationalismus der Aufklärung gegenüber den Juden „nichts anderes meine als Christianisierung“. In der Tat hatte selbst Immanuel Kant keinerlei Skrupel sich innerhalb seiner protestantisch geprägten „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zwar für die rechtliche Gleichstellung der Juden einzusetzen, zugleich aber eine „Euthanasie des Judentums“ einzufordern.

Wie weit und koninuierlich gegenwärtige Versuche der Herbeiführung einer Entscheidung über die Ent-Scheidung der Differenzen zurückreichen, hat Stefan Ripplinger 2001 dargelegt: „Die deutsche Aufklärung etwa war sich über den Weg aus der Religion durchaus einig, er sollte über Protestantismus und Deismus in den moralisch gegründeten Atheismus führen. Nur der Protestantismus als reflektierter Monotheismus biete, so die allgemeine Auffassung, die Voraussetzung für eine sittliche Säkularisierung, und seine Werte und Vorstellungen von Menschenrecht und Humanität, die auf der lutherischen Theologie von lebendigem Wort und unmittelbarer Verbindung mit Gott ruhen, seine Metaphysik von Ich und Nation, seine Politik der paulinischen Gemeinschaft haften noch heute den scheinbar religionsfernsten Philosophemen an. Die Aufklärung vollendete die Christianisierung. Und auch eine andere Gemeinsamkeit verbindet die religionsphilosophischen Vorstellungen der Aufklärer: Sie bestritten nicht nur, dass es eine jüdische Aufklärung geben könnte, sie erklärten das Ende der als atavistisch empfundenen jüdischen Kultur zur Voraussetzung eines geordneten Übergangs zu einer universalen Kirche. Nicht ohne Grund waren nicht nur die deutschen Aufklärer, sondern noch ihre rechten und linken Gefolgsleute im 19. Jahrhundert (Fichte, Feuerbach, Hegel, Marx) ohne Ausnahme Antisemiten.“

In der säkular-protestantischen Bundesrepublik von heute, von der Bundeskanzlerin und dem Bundespräsidenten – sogar von Einzelnen in meiner eigenen Partei – mittlerweile auch offensiv politisch repräsentiert, sind die „Religioten“, so der Kampfbegriff eines neuen aggressiv-missionarischen „Atheismus“, jedenfalls immer die anderen. Das „Andere“, dass dann im politischen Raum – auch der Linken – bis zu abstrusen Projektionen aufgeblasen wird. Ob nun ein Günter Grass, in der Aufarbeitung seiner ihm zeitweise entfallenen Vergangenheit im Dienst für den ersten „Maulhelden“ in der Waffen-SS, bei Israel Vernichtungsabsichten gegenüber dem zweiten „Maulhelden“ Ahmadinedschad vermutet, oder ob von Jakob Augstein eine mächtige Einflussnahme der Juden vermutet wird, von denen es aber gerade mal soviel auf der ganzen Welt gibt wie Bayern. Von der „Gefahr für den Weltfrieden“, das von einem Land ausgehen soll, dass nur von sich ständig auch als solche erklärenden Feinden umgeben ist, das aber gerade einmal die Größe – und dabei noch eine geringere Wirtschaftskraft – des Bundeslandes Hessen hat, ganz zu Schweigen.

Der „Frieden“, gar der „Weltfrieden“ und die „Menschenrechte“ also sind es – vollkommen unabhängig davon, ob es jenen überhaupt gibt oder das diese sich keineswegs über Religionen ausschweigen und auch nicht nur Individualrechte sind –, unter deren Nennung sich das in der Bunderepublik ereignet hat, was Alfred Bodenheimer das „Restrangement“ genannt hat. Das zweifache „Nie wieder“ nach Auschwitz, dass das deutsch-jüdisch-israelische Verhältnis geprägt hat, das „Nie wieder sich wehrlos ins Schicksal ergeben“ der Juden und das „Nie wieder herrschende Gewalt anwenden“ der Deutschen, hat wohl, soviel ist zu sagen, die längeren Linien des Antisemitismus und des Herrschaftswillens nur verdeckt. Sie konnten wohl wieder virulent werden, weil nach 9/11 und dem Kölner Gerichtsurteil (das ja zunächst einen islamischen „Fall“ betraf) das Jüdische plötzlich wieder als solches und quasi als Kollateralschaden des allgemeinen Abwehrkampfes gegen den Islam wieder in Erscheinung trat. Die von christlichen Politikern hierzulande erfundene „gemeinsame jüdisch-christliche Tradition“, ist eben auch Teil dieses Abwehrkampfes gegen alles Semitische gewesen und hat sich seitdem auch gründlich entzaubert. Mit der letztendlichen Entscheidung des Bundestages, auch dies schreibt Alfred Bodenheimer, drohen damit die Juden in Deutschland quasi wieder in den vormodernen Status des „Schutzjudentums“ zurückzufallen. Sicher kann man dies den Bundestagsabgeordenten nicht vorwerfen, sie sollten sich dessen nur bewusst sein, dass die Juden in Deutschland nur mal wieder nach dem Spruch aus dem Matthäus-Evangelium, das nicht das ihre ist, zu leben gezwungen sein könnten, dem Kaiser zu geben haben, was des Kaisers ist, damit dieser ihm auch zugestehe, dass sie Gott geben können, was Gottes ist.

Die „Friedensaktivisten“, „Menschenrechtler“ und „humanistischen Atheisten“ werden dafür schon Sorge tragen. Sie haben die öffentliche Meinung auf ihrer Seite. Die „Dialektik der Aufklärung“ mit ihrem immer öfter im Absolutheitsanspruch daherkommenden social engineering, über deren bis ins Rücksichtsloseste gehende Ausprägungen bereits Zygmunt Bauman in seiner Untersuchung über die „Moderne und den Holocaust“ geschrieben hat, schreitet weiter voran.

Robert Zion

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Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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