Westerwelle und die Krise des Sozialstaats

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Von Robert Zion

In der derzeitigen Debatte um Hartz IV nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts entpuppt sich FDP-Chef Guido Westerwelle gleichermaßen als Biedermann und Brandstifter. Dabei geht es um mehr, als nur um die in Frage stehende Akzeptanz des Sozialstaats – es geht um die politische Zukunft des Gemeinwesens.

Ein viertel Jahrhundert ist es nun her, dass Ulrich Beck seinen soziologischen Klassiker von der „Risikogesellschaft“ veröffentlicht hat, ein viertel Jahrhundert hat das Gros der deutschen Medien- und Politiklandschaft dessen zentrale Botschaft ignoriert: Selber schuld! – so lautet die neue Botschaft der Mehrheitsgesellschaft an die sogenannte „Unterschicht“.Was Ulrich Beck 1985 noch die „Verwandlung der Außenursachen in Eigenschuld, von Systemproblemen in persönliches Versagen“ genannt hat, ist in der Tat von dem, was der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer heute „Nützlichkeitsrassismus“ nennt, nicht mehr weit entfernt. Und es ist das Wasser auf den Mühlen des kleinbürgerlichen Ressentiments, das der Biedermann Westerwelle nur allzu gerne zu bedienen scheint.

Schon hat die deutsche Medienlandschaft nach Henrico Frank mit Arno Dübel einen neuen Vorzeige-Hartz-IV-Empfänger, vorgeführt von Bildzeitung bis Kerner, an denen sich ein als Gerechtigkeitsempfinden verkleideter Klassenkampf von oben als neidgespeister, irrationaler Volkszorn entladen kann. Westerwelles Äußerungen von „spätrömischer Dekadenz“ und von der Verpflichtung zum „Schneeschippen“, untermauert von sachlich verflachten Bemerkungen zum Lohnabstandsgebot, sind wahrscheinlich ohnehin nicht viel mehr als ein Ablenkungsversuch von der Klientel-Steuerpolitik der FDP, doch leider scheinen diese teilweise zu verfangen: Bürger geben Westerwelle Recht. Dass Westerwelle damit auch latent Ausländerfeindlichkeit schürt, nimmt der „Liberale“ hiermit billigend in Kauf.

Dabei besetzt der Außenminister das vielleicht wichtigste gesellschaftspolitische Thema der Zeit, wenn er einen „völligen Neuanfang des Sozialstaats“ einfordert – leider nur in einem marktradikalen bis rechtspopulistischen Tonfall. Denn tatsächlich, so der hessische Sozialrichter Borchert, ist unser Sozialstaat alter Prägung gescheitert. Dieser diente bisher der Absicherung von Arbeitnehmern, dieinnerhalb ihrer Erwerbsbiografie "verunfallt" sind. Doch der radikale Wandel der Arbeitsgesellschaft, die internationale Arbeitsteilung und der enorme Produktivitätsfortschritt haben nahezu alles verändert. Ein neuer Sozialstaat – und einen neuen braucht es, sonst werden wir den Sozialstaat und damit einen Kernbereich der politischen Legitimierung des Gemeinwesens verlieren – muss hingegen eine allen gemeinsame Grundlage schaffen ("garantistischer Sozialstaat" nennt dies der Sozialwissenschaftler Michael Opielka) und den Arbeitsbegriff neu definieren.

Es schlechterdings unmöglich, große Teile der Gesellschaft im System des alten Sozialstaats zu alimentieren – damit würden wir dem Sozialstaat seine Akzeptanz nehmen. 6,8 Millionen Hartz-IV-Empfänger und eine ständig steigende Sozialquote beschreiben eine Entwicklung, mit der sich eine finanzielle und legitimatorische Grenze des alten Systems abzeichnet. Auch eine weitere Ausweitung des Niedriglohnsektor, wie im Schröder-Blair-Papier von 1999 offen dargelegt der letzte Versuch einer konzeptionellen Lösung mit New Labour unter Rot-Grün („Teilzeitarbeit und geringfügige Arbeit sind besser als gar keine Arbeit“), ist selbstverständlich keine Antwort. Selbst die Einführung von Mindestlöhnen würde, wie das Beispiel Frankreich zeigt, wohl als alleinige Maßnahme nur zu einem Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit führen. Die Krise des Sozialstaats ist die Krise der Arbeitsgesellschaft schlechthin. Es geht also gar nicht um „Leistung, die sich lohnen muss“, um „Faulheit“, um die „soziale Hängematte“ oder um 50-jährige arbeitslose Landschaftsgärtner, die zum “Schneeschippen“ verpflichtet werden sollen – es geht um eine vollzogene, systeminterne Revolution unserer Arbeits- und Wirtschaftsweise, die zu „Systemproblemen“ (Ulrich Beck) geführt hat, an denen die „Politik“ augenblicklich zu scheitern droht.

Und so bemängelt Michael Jäger im Freitag zu Recht: „Wie schade, dass wir keine Opposition haben, die sich über das Projekt Grundeinkommen statt Steuersenkung einig ist. Sie hätte jetzt ihre große Stunde.“ Es wäre die Stunde der Grünen. Dass ausgerechnet, so die Financial Times Deutschland, von der „einzigen linken Partei, die den Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft geschafft“ hat, immer noch nicht Satz: "Wir haben einen Fehler gemacht, und der heißt Hartz IV", zu vernehmen ist (bis auf wenige Ausnahmen), ist höchst bedauerlich und im Wesentlichen der strategischen Fehleinschätzung einer Person zu verdanken (Bütikofer 2007: "Ein Grundeinkommen für alle Bürger ist in der deutschen Parteienlandschaft nicht anschlussfähig"), die allerdings nicht das letzte Wort der Grünen sein muss. Es gibt bei den Grünen in der Parteibasis wahrscheinlich sogar eine Mehrheit für ein Grundeinkommen – und dies flügelübergreifend. Damit könnte sich die Partei von dem protestantischen und industriegesellschaftlichen Arbeitsethos der SPD, von der Staatszentriertheit der Linken, vom Konservativismus und Wachstumsdogma der CDU/CDU und von der marktradikalen Ideologie der Westerwelle-FDP konzeptionell absetzen und ihren Anspruch, progressive Kraft und Motor der Erneuerung in der Parteienlandschaft zu sein, wieder einlösen.

Kann sich eine Republik neu erfinden? Sie wird es müssen. Wer nur auf die „Beschäftigungswirksamkeit des Wachstums“ und auf die überkommene Arbeitsgesellschaft setzt, spielt fortan mit der politischen Stabilität im Land und hat den Westerwelles im Grunde nichts mehr wirksam entgegenzusetzen. Allein der Ruf nach Gerechtigkeit genügt nicht, wenn administrative und finanzielle Grenzen erreicht sind und ursprünglich gut gemeinte Sozialpolitik längst zur zynischen Menschenverwaltung geworden ist. Wir brauchen heute eine Politik, die ihren Bürgern vertraut, statt die ohnehin Gebeutelten unter Generalverdacht zu stellen und ihnen auch noch hinterher zu schnüffeln. Und wir brauchen wieder Mut in der Politik, Mut für ein Projekt, das die uns allen gemeinsame Basis unseres Gemeinwesens erneuert. Wir brauchen soziale Bürgerrechte. Erst diese – für jeden und jeden bedingungslos garantiert – werden dafür sorgen, dass eine Arbeitswelt in Zukunft entstehen kann, in der so etwas wie Selbstbestimmung und Teilhabe für viele überhaupt erst wieder möglich wird.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Robert Zion

Gruenen-Politiker, Publizist

Robert Zion

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