Erst nach zwölf Jahren in Deutschland erlebte ich einen Kulturcrash. Diese verspätete Reaktion mag meiner Wahrnehmung geschuldet sein, aber sicherlich auch dem Umstand, dass ich in andere Umstände kam. Seit dem ersten Blick auf den Schwangerschaftstest vor fünf Jahren habe ich mich bis heute oft doppelt fremd gefühlt: Nicht nur als Neuling im Reich der viel erfahrenen und allwissenden Eltern, sondern auch als ausländische Mama in Deutschland.
Mittlerweile habe ich den Grundkurs immerhin erfolgreich genug absolviert, um problemlos in die Gattung der Berlin-Mitte-Eltern aufgenommen zu werden: Ich kann meinem Kind beim wilden Schaukeln zuschauen, ohne weitere graue Haare zu bekommen, ich vermag hinzunehmen, dass mein Sohn sich Sand über den Kopf schüttet und wohne stoisch seinen Sandfutterorgien bei. Für eine italienische Mama, die mit Sätzen wie: „Mach dich nicht schmutzig“, „Tu’ das nicht“, „Das ist zu gefährlich“ oder „Bewege dich am besten überhaupt nicht, sei bitte unselbstständig“ aufgewachsen ist, ist das nicht wenig.
Und das alles mit einem Latte Macchiato im Pappbecher auf dem Spielplatz, dem Getränk, dessen Konsum Pflicht bei allen Aufnahmetests für die deutsche Staatsbürgerschaft werden sollte. Aber eine Frage zerstört unsere heile Welt dann doch und verwandelt unsere Coolness und unseren Erfolg als Eltern in absolutes Versagen: Wann schläft das Kind abends ein?
Der Sandmann kommt spätestens um neun
Schon im Geburtsvorbereitungskurs hatte mich ein Satz der leitenden Hebamme etwas beunruhigt: „Wir sind in Deutschland, und die Kinder müssen früh einschlafen“. Okay! Ich verstand den Satz nicht so recht und vergaß ihn dann völlig. Eine andere Form des Verbs „schlafen“ sollte mich bald viel mehr beschäftigen: das Durchschlafen. Es dauerte Jahre.
Dass mein Sohn eine eher laxe Beziehung zum Schlafen pflegte, habe ich bald begriffen. Als wir das Durch- hingekriegt hatten, probierten wir das Ein-, und zwar nach den deutschen Vorgaben der Hebamme, der deutschen Oma und der deutschen Bekannten: Der Sandmann muss spätestens um neun das Kind besucht haben. Nur wusste der Sandmann wohl nicht, wo wir wohnen.
Als auf dem Spielplatz irgendwann Themen wie Wehen und Windeln weniger angesagt waren, fing man an, sich gegenseitig zu fragen: Wann schläft euer Kind eigentlich? Unsere ehrliche Antwort – so gegen halb elf – löste eine Welle der Entrüstung aus, als bedeute sie den Verlust des Paradieses. Es folgten mitleidige Reaktionen wie: „Ihr habt kein Privatleben mehr“, oder Missbilligung: „Was habt ihr nur falsch gemacht? Das arme Kind, so völlig übernächtigt morgens zur Kita“ – oder gar Schadenfreude: „Ihr habt kein Privatleben mehr, ätsch.“ Ein Bekannter grüßt uns mittlerweile mit den Worten: „Schläft Luca immer noch so spät ein?“
Jeder weiß, wer schuld an der Sandmann-Sabotage in unserer Familie ist: Ich, die Italienerin. Denn ich gehöre jenem Volk an, das im Sommer halb schlafende Kinder überall hin mitschleppt, ohne Rücksicht auf aus zu kleinen Buggies hängende Köpfchen.
Wir können Fangen spielen, meditieren oder die Steuererklärung vorlesen – er schläft, wann er will. Liegt es am Ende an den italienischen Genen? Nun ja, ich muss zugeben, dass meine Teilnahme am Programm „Kind-konditionieren-damit-es-spätestens-um-21-Uhr-die-Augen-schließt“ immer zu wünschen übrig ließ: Zum einem habe ich (weniger als Italienerin, sondern mehr als Wissenschaftlerin) Probleme mit Dogmen, die keiner Prüfung unterzogen werden. Und seit ich begriffen habe, dass unser Kind unter der späten Einschlafstunde nicht leidet und in der Früh munter (zu munter) aus dem Bett springt, ist mein Bedarf an Prinzipien gedeckt.
Wilder Sex, Partys, Facebook?
Mein Mann und ich arbeiten tagsüber, wir holen die Kinder (mittlerweile sind es zwei) abwechselnd ab und unterhalten sie bis 22 Uhr. Wenn die Engelchen schlafen, gönnen wir uns ein Gläschen Wein und versinken im Bett. Manchmal frage ich mich, was die anderen Eltern, deren Kinder sich brav mit der Tagesschau in die Welt der Träume zurückgezogen haben, in ihrem märchenhaften Privatleben wohl so treiben: Wilder Sex? Partys? Facebook?
Eigentlich möchte ich meine Kinder abends gar nicht unbedingt loswerden: Allein mit meinem Mann bin ich momentan zwar selten, das ist schade. Aber zuweilen gehen wir beide auch aus, als wären wir zwei Teenies. Weil meine Kinder noch so klein sind, habe ich sie gerne bei mir, am liebsten eines an der Hand oder auf dem Schoß. Früh genug werden sie das nicht mehr wollen. Manchmal frage ich mich, ob ich mich dann über mein wieder gefundenes Privatleben freuen werde.
In der Reihe Wie uns die Anderen sehen, konzipiert von Hanna Engelmeier und Marco Formisano, haben wir eine besondere Gruppe von Zuwanderern in Berlin um ihren alltags-kulturellen Blick auf die Stadt gebeten: Wissenschaftler, Architekten, Mediziner, Schauspieler und Künstler erzählen von ihrer bisweilen schon vertrauten, aber oft auch noch fremden Heimat. Durch ihre Arbeit haben sie einen geregelten Zugang zu Stadt und Bewohnern, aufgrund ihrer Herkunft ein besonderes Gespür für die Unterschiede in der Bedeutung alltäglicher Praktiken. Im nächsten Teil der Serie wundert sich der Amerikaner Craig Williams darüber, warum deutsche Fußgänger bei Rot stehen bleiben, auch wenn die Straße vollkommen autofrei ist.
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