Liebe Greta Thunberg, Vor einiger Zeit war ich mit dem „ausgeborgten“ Sohn eines Freundes, ich nenne ihn mal Ole, bei der Fridays-for-Future-Demo in Berlin. Es war kalt, aber ich war froh, dass er und seine Freundin mich mitnahmen zu „ihrer“ Demo. Ich war froh, dort Erwachsene meines Alters zu sehen. Euer Anliegen zerreibt sich offenbar nicht in einem Konflikt der Generationen. Überhaupt war da eine mitreißende Energie. Und was die Kälte betrifft, lehrte mich ein Plakat, diese zu lieben: „Ich weiß, es ist kalt heute. Aber immerhin gibt es noch kalte Tage.“ Außerdem wurden ja auch Erwärmungsübungen eingelegt, mit einer Losung, deren ideologische Vereinfachung ich in diesem Fall leicht durchgehen lassen konnte: „Wer nicht hüpft, der ist für Kohle.“
Die Demo fand zwischen dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur und dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie statt. Ein sinnbildlicher Ort. Meine Frage wäre nämlich, ob man nicht den Kampf um eine lebenswerte Zukunft in ökologischer Hinsicht verbinden sollte mit dem Kampf um eine Zukunft in digitaler Hinsicht, in der nicht die Mächtigen der digitalen Technologien unser Handeln kontrollieren. Konkret meine ich Facebook, dessen Textmessenger Whatsapp als Kommunikationsmedium der Protestbewegung genutzt wird. Ich weiß das von Ole und bin kein bisschen erstaunt. Immerhin kommuniziert heute jeder über Whatsapp, wobei die Klimaschutzaktivistin Luisa Neubauer kürzlich sagte, sie versuche öfters Telegram und Signal zu nutzen (der Freitag 18/2019).
Wann immer Datenschutzaktivisten auf alternative Textmessaging-Dienste mit besseren Privacy-Bedingungen verweisen, müssen sie sich anhören, dass sich jeder ins kommunikative Aus stellt, der auf einer App kommuniziert, die kaum jemand nutzt. Im Fachjargon heißt dies Netzwerkeffekt: Alle gehen dahin, wo schon die meisten sind. Niemand schwimmt gern gegen den Strom. Das ist mit den Kommunikationsmedien ähnlich wie mit dem Klima. Ihr wollt diesen Kreislauf durchbrechen, wenn es um ökologische Fragen geht. Hätte eine Bewegung von diesem Ausmaß auch die Chance, die Macht der IT-Konzerne zu brechen? Würden die Schüler, wenn die wichtigsten Informationen nur über einen alternativen Messenger (wie Threema zum Beispiel) zu haben wären, die knapp zwei Euro berappen, die diese App einmalig kostet? Es wäre gewiss eine gute Vorbereitung auf das, was es braucht, um die Umwelt zu retten: die Bereitschaft, nicht immer den bequemsten und billigsten Weg zu gehen. Wobei ich gar nicht glaube, dass es am nötigen Kleingeld fehlt. Viele auf der Demo gaben den Verkäufern der Obdachlosenzeitung, die sich plötzlich einfanden, Geld. Die Mädchen vor mir überließen dem Mann, der älter war als ich, bereitwillig ihre leeren Bierflaschen.
Politikersprüche go home
Das also hatte ich Dich fragen wollen. Aber dann dachte ich, dass man eine Bewegung, die erst noch dabei ist, ihre Ziele zu formulieren, nicht gleich durch die Kritik ihrer Kommunikationskanäle überfordern sollte. Ich weiß nicht, ob die Grünen sich bei ihren ersten heißen Debatten mit Coca-Cola oder Pepsi wachhielten oder diese Getränke als Symbole des Konsumkapitalismus ablehnten. War Tchibo besser? Gab es schon Fair-trade-Kaffee? Da die Koffeinproduktion nicht der Hauptgegner der Ökobewegung war, wäre es absurd gewesen, an dieser Frage die Diskussionskraft zu gefährden. Aus dem gleichen Grund wäre es unfair, die Ernsthaftigkeit der Fridays-for-Future-Bewegung an der Symbolik ihrer Kommunikationsmittel zu messen.
Aber bleiben wir bei den Grünen. Es wird gemunkelt, dass die Klimabewegung, die Du inspiriert hast, zur Gründung einer Partei führen wird. Ich fände das gar nicht schlecht; festere Strukturen könnten dieser Bewegung gewiss mehr politischen Einfluss sichern, als dies beispielsweise bei Occupy der Fall war. Ob es tatsächlich eine zweite grüne Partei braucht, will ich nicht beurteilen. Auf jeden Fall sollte sie aber ebenso wie die Grünen rechtzeitig ihr ureigenes „Nebenthema“ erkennen, das heute nicht Friedensbewegung oder Feminismus heißt, sondern Digitalisierung. Doch: Digitalisierung! Denn da stellt sich die gleiche Frage, die Euch umtreibt: Welchen Vorrang soll die Wirtschaft haben? Welche Kompromisse fordert das Soziale?
Ihr von Fridays for Future, bitte korrigiere mich, wenn ich falschliege, wollt nicht länger die alten Sprüche der Politiker akzeptieren, bei der Ökologie müssten die sozialen Folgekosten abgewogen werden. Für Euch relevant sind weder das Bruttoinlandsprodukt oder die Arbeitslosenzahlen, sondern der CO₂-Ausstoß, die reale Erderwärmung und die Restlaufzeit unseres Planeten. Ich denke, es ist höchste Zeit für diese Priorisierung. Es ist höchste Zeit dafür, den Umstand, dass die Politik ihre selbst gesteckten Klimaziele nicht erreicht, nicht länger mit der Komplexität und den Zwängen gesellschaftlicher Prozesse zu erklären. Es ist Zeit, der ökologischen Frage alles andere unterzuordnen statt umgekehrt.
Genau das ist die Haltung, die wir auch bei der Digitalisierung brauchen, wenn es um den Interessenkonflikt zwischen Ethik und Wirtschaft geht. Dieser Konflikt ist schon voll im Gange, auch wenn das bei all den Klimasorgen nur wenigen auffällt. So haben die Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder kürzlich in ihrer „Hambacher Erklärung zur Künstlichen Intelligenz“ gemahnt: „Nicht alles, was technisch möglich und ökonomisch erwünscht ist, darf in der Realität umgesetzt werden.“ Das klingt unscheinbar und wird bei Politik und Wirtschaft kaum Gehör finden, hat es aber ebenso in sich wie Eure Demos für die Zukunft. Denn hier ist genauso gefordert, die Rechte des Menschen über die Interessen der Wirtschaft zu stellen. Und auch hier sieht die Bundesregierung das anders. Sie will eine Auflockerung des Datenschutzes, damit Deutschland nicht den Anschluss an Industrie 4.0. verliert und zur „verlängerten Werkbank“ der Weltwirtschaft verkommt. Das klingt so vernünftig wie vertraut. Aus der gleichen Logik schützt man das Rückgrat der deutschen Wirtschaft, die Autoindustrie, vor einer radikalen Umweltpolitik. Genau damit soll jetzt Schluss sein, sagen die jungen Leute auf der Straße. Und genau damit sollte man im Bereich der Digitalisierung gar nicht erst anfangen, denke nicht nur ich.
Was auf dem Spiel steht, verrät eine Bemerkung der Bundeskanzlerin im Mai 2018. Damals wandte sie sich mit dem gleichen Argument möglicher Nachteile für die Wirtschaft gegen die EU-Datenschutzgrundverordnung. Künstliche Intelligenz könne sich ohne den Umgang mit großen Datenmengen nur so entwickeln „wie eine Kuh, die kein Futter kriegt“. Das klingt plausibel, zumal wenn der BDI-Präsident dann gleich betont, dass automatische Frühwarnsysteme für Kollisionen im Autoverkehr ohne entsprechenden Datenzugriff nicht möglich seien. Wer wäre nicht für weniger Unfälle? Aber hier geht es nur halbwegs um deutsche Straßen. Worum es eigentlich geht, ist das chinesische Modell.
Hilft nur die Öko-Diktatur?
Chinas autoritäres System hat all das Futter für so eine KI-Kuh. Dort stehen der Wirtschaft weder Datenschutzbeauftragte noch der historisch entwickelte Anspruch auf informationelle Selbstbestimmung im Weg. Und weil das Melken einer fetten KI-Kuh China im heiß umkämpften Zukunftsmarkt der künstlichen Intelligenz enorme Wettbewerbsvorteile bietet, träumen die Bundeskanzlerin und Wirtschaftsvertreter Deutschlands insgeheim wahrscheinlich von Datenschutzbestimmungen, die Chinas Möglichkeiten gleichen.
Wenn es stimmt, dass wir im „chinesischen Jahrhundert“ leben, sollte uns der Umgang in China mit den Menschenrechten schon heute zu denken geben. Der Überwachungsstaat mittels künstlicher Intelligenz, der sich dort abzeichnet, mag nicht den Planeten zerstören, aber doch das, was uns unter dem Begriff Humanismus ans Herz gewachsen ist. Deswegen meine Bitte an Dich, liebe Greta, nehmt dieses Thema in euren Forderungskatalog auf. Besteht auf Kompromisslosigkeit gegenüber den sogenannten wirtschaftlichen Zwängen – nicht nur, wenn es um Klimaschutz geht, sondern auch, wenn es um die Umgestaltung der Gesellschaft geht.
Der Technikphilosoph Hans Jonas schrieb in seinem Buch Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation 1979, dass nur autoritäre Systeme wirklich Umweltschutz durchsetzen können, weil sie nicht von der Wiederwahl abhängen. Denn wer unter den Wählern ist bereit für Nullwachstum und sinkende Konsummöglichkeiten? Die historische Aufgabe der Fridays-for-Future-Bewegung scheint mir darin zu liegen, diese Bereitschaft zu schaffen und somit wirklichen Umweltschutz auch in einer Demokratie salonfähig zu machen. Die Politiker verweisen oft auf die Zwänge, unter denen Politik gemacht wird, und die besseren unter ihnen freuen sich über die Rückendeckung, die sie nun von der Straße erhalten. Es wäre gut, wenn sie diese Rückendeckung auch hätten, wenn sie die Folgen der Digitalisierung problematisieren.
Bitte versteh mich nicht falsch, Greta. Ich will die Fridays-for-Future-Bewegung keineswegs überfordern oder von ihrem eigentlichen Thema ablenken. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Ihr das Prinzip des Menschlichen gegenüber der Wirtschaft nicht auf die Umweltfrage beschränken solltet. Die Kompromisslosigkeit, die Ihr mit dem Recht der Jugend dem viel zu diplomatischen Alter beim Umweltschutz entgegensetzt, tut uns gut auch bei den Weichenstellungen, zu denen es jetzt im Bereich der Digitalisierung kommt. Ich könnte in beiderlei Hinsicht denken: Für mich reicht es noch. Aber ich spreche für Ole und damit für Deine Generation, wenn ich sage, die Zukunft, für die Ihr jetzt auf die Straße geht, muss eine Zukunft sein, in der es sich in doppelter Weise atmen lässt: als Lebewesen und als Mensch.
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