Die Kritik an Facebook ist ja nicht verkehrt „Jetzt wird sozialer Status ein präzise messbarer Wert. Statistiken zeigen, ob man homosexuell ist. Ob man zum Bier-Talk taugt. Ob man ein guter Mitarbeiter wird“, schrieb Sascha Lobo neulich. Alles richtig. Man kann mit der kritischen Soziologie sogar noch eins draufsetzen: Das Selbstdarstellungsgebot in den sozialen Netzwerken ist ein Einüben in die leistungsethischen Zwänge der Selbstvermarktung.
Und doch: Sieht denn keiner, wie sehr Facebook die technische Antwort auf ein brisantes soziales Problem ist? Erinnert sich denn keiner an Blaise Pascals berühmten Spruch zum Unglück des Menschen oder wenigstens an John Lennons populären Song? Es war 1974, als Lennon einen großen Hit in den US-Charts landete: „Whatever Gets You Thru the Night“. Die wichtigsten Worte des Songs: „it’s alright“. Diese Blanko-Absolution wiederholte der Song mit zunehmender Bedeutsamkeit: „Whatever Gets You Thru Your Life“, „Whatever Gets You to the Light“: „It’s alright, alright“. Was das ominöse Whatever sein könnte, blieb unklar. Nicht aber, woher es kam. Lennon hatte es von einem afroamerikanischen Evangelisten beim nächtlichen TV-Channel-Surfen. Und er hatte offenbar den Zeitnerv getroffen, indem er ein altes existenzielles Problem mit lebensfrohen Rhythmen wegsang: den horror vacui, die große Furcht vor der Leere.
Wieso? Knapp 300 Jahre früher schrieb der französische Philosoph Blaise Pascal: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Mit sich allein gelassen, würde der Mensch über seine Sterblichkeit nachdenken, „so dass er nun, wenn ihm das fehlt, was man Zerstreuung nennt, unglücklich ist“.
Ein Jahrhundert nach Pascal war das Zimmerproblem gelöst: Mit einem Buch konnte man sich in den eigenen vier Wänden zerstreuen, mit einer Lampe gar bis tief in die Nacht. Mit dem Fernsehen kam man sogar ohne extra Licht durch die Nacht. Und durchs Leben, denn darauf kam es im 20. Jahrhundert immer mehr an. Pascal, das ist zu ergänzen, mahnte zu Gott. Denn in ihm findet das Sein zum Sinn, in der frohen Botschaft weicht die Angst vor der Stille dem Gefühl der Geborgenheit. Was aber, wenn Gott tot ist, wie Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts verkündete? Was wenn, nach dem Niedergang des Realsozialismus, auch die philosophischen und politischen Erzählungen nicht mehr den großen Sinn geben? Was wenn die Zukunftsmusik nicht viel mehr ist als ein „Dreiklang aus Energiekrise, Klimawandel und Massenarbeitslosigkeit“, wie Meredith Haaf in ihrem Buch Heult doch: Über eine Generation und ihre Luxusprobleme schreibt?
Der Fernseher als Narkotikum
Dann gibt es drei Möglichkeiten: Man richtet sich in der Aussichtslosigkeit ein, man reanimiert Gott oder man sucht nach einem Narkotikum, das durch Nacht und Leben bringt. Mit dem Einrichten hatte der italienischen Philosoph Gianni Vattimo schon 1985 seine Zunft beauftragt, als er schrieb: Nach dem Ende der großen Erzählungen über Sinn des Lebens und Ziel der Geschichte besteht die Funktion der Philosophie nicht mehr darin, den Menschen zu zeigen, wohin sie unterwegs sind, sondern wie man unter der Bedingung lebt, nirgendwohin unterwegs zu sein. Das war im gleichen Jahr, als die Talking Heads mit trotzigem Fatalismus sangen: „We’re on a road to nowhere / Come on inside“.
Die Wiederbelebung hatte Nietzsche vorausgesehen. Denn seinem Befund „Wir haben Gott getötet!“ folgte sogleich die Frage: „Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns?“ Und in der Tat, das 20. Jahrhundert endet mit einer Rückkehr des Religiösen, wenn auch eher in spiritueller als in institutionell-konfessioneller Form (siehe auch den Artikel über Esoterik im letzten Freitag). Vattimo erinnert sich an Nietzsches Zweifel und formuliert 2001 mit dessen anderem berüchtigtem Schlagwort: „Auf das Problematische und Chaotische der spätmodernen Welt mit einer Rückkehr zu Gott als dem metaphysischen Fundament zu reagieren bedeutet, um mit Nietzsche zu reden, sich der Herausforderung des Übermenschentums nicht zu stellen.“ Was die dritte Reaktionsmöglichkeit betrifft, so war das effektivste Narkotikum der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fernseher, der seit 1984 in Deutschland auch Privatsender kannte, die nicht mehr dem Bildungs-, sondern ganz dem Zerstreuungsauftrag verpflichtet waren.
Welche Folgen das hatte, beschrieb Hans-Magnus Enzensberger 1988 in seinem Spiegel-Essay Die vollkommene Leere. Das Nullmedium oder: Warum alle Klagen über das Fernsehen gegenstandslos sind. Die Leere ist das Gegenteil zum Pascalschen Zimmer. Sie ist die hypnotische Versenkung in den schrillen Ablauf der Bilder, der keinerlei Botschaft mehr vermitteln will. Enzensbergers Hauptzeuge war ein sechs Monate altes Baby vor der Mattscheibe, das schon aus hirnphysiologischen Gründen nichts verstehen kann und trotzdem gebannt und glücklich sitzen bleibt. Symbol einer sinnfreien Intensität des reinen Augenblicks.
Enzensbergers Beispiel können gewiss viele bestätigen. Es war trotzdem schlecht gewählt, überschätzt es doch die Attraktivität des Sinnlosen für jene, die halt schon denken können. Für Erwachsene würde Zerstreuung ohne das Alibi von Sinn das menschliche Dilemma nicht verdecken, sondern noch hervorheben. Deswegen braucht es jeweils Geschichten, egal wie dünn, ungereimt und auswechselbar sie sind. So funktionierte es jedenfalls bisher. Jetzt bedarf es stärkerer Mittel. Für digital natives liegt die perfekte Zerstreuung in der permanenten Kommunikation. Mit dem Alibi der Interaktion: Es braucht den anderen Menschen, um zu gelingen. Das verführt manche dazu, Facebook als die passende Technik zu neurowissenschaftlichen Theorien zu lesen, die dem Menschen einen empathischen Wunsch nach Kommunikation nachsagen. So feiert zum Beispiel Alexander Pschera in seiner Apologie der sozialen Medien Facebook als Medium der Liebe, das die Utopie der Verständigung jenseits von Herrschaft und Nützlichkeitsdenken verwirklicht. Eine solche Verteidigung Facebooks g ist zwar löblich, schießt aber übers Ziel hinaus und völlig am Übermenschen vorbei, da sie wieder die Illusion hegt, zum Besseren unterwegs zu sein.
Flucht ins Technische
Gehen wir von Folgendem aus: Die Kommunikation der sozialen Netzwerke ist mehr oder weniger das, was die Sprachwissenschaft phatisch nennt und der Volksmund Small Talk. Eine Art Placebo-Gespräch, das nichts anderes zum Ziel hat als sich selbst und den unmittelbaren Augenblick. Genauer: Ziel ist die Vermeidung des Augenblicks, der, wie Pascals Zimmer, das Ich mit sich allein ließe. Deswegen die permanente Kommunikation als Grundgesetz unser Kultur. Das mag man gelegentlich als Bürde beklagen, aber wenn das Leben Momente der Untätigkeit aufdrängt (im Bus, im Wartesaal, am Taxistand), spürt man dunkel wieder die Todesangst und greift rasch zum Smartphone. Die neuen Medien garantieren, dass man nie mit sich allein ist, und werben sogar, wie Apple für den iPad-Kalender, lässig mit Sprüchen, die einst Grund zum Aufschrei waren: „Immer schön busy“.
Keine Zeit für horror vacui. Die Lösung des 21. Jahrhunderts liegt im Verbund von Facebook, Twitter und iPhone. Für alle andern gibt es Gott. Die Alternative zum Priester ist der Programmierer.
Die Moderne kann ihr Projekt – das scheitern würde mit der Rückkehr der Religion – nur retten durch die Flucht ins Technische: Sie übersetzt die Bedeutung von „Verbindung“ im Lateinischen religio als „Link“ und kürt zum heilbringenden Medium nicht die Kanzel, sondern das Online-Netzwerk. Dort ereignen sich die Begegnungen unserer Zeit im Takt der Updates. Dort feiert sich, in Anbetung unentwegter Gegenwart, die ewige Wiederkunft des Gleichen. Die geschichtsphilosophische Pointe des Übersetzungstricks: Der Facebook-User entkommt, solang er das Kommunikationskarussell am Leben hält, nicht der Weltbejahung. Metaphysik der Ziellosigkeit; der Übermensch als Kommunikationsjunkie.
Wenn etwa angesichts des Börsenganges von Facebook wieder viel über die Profitgenerierung aus den Daten der User gesprochen wurde, sollte man sich einmal auch zum Blick der großen Linien erheben. Es ist Zeit zu erkennen, welch großes Geschenk Facebook an die Menschheit ist. Mark Zuckerbergs Werk hat eben nicht nur das Soziale messbar gemacht, wie immer wieder beklagt wird, es hat auch das Soziale überlebensfähig gemacht, indem es mit psychologischer Raffinesse das Problem der Sinnfindung erledigt. Was immer das „Whatever“ war in Lennons berühmten Song, heute ist’s klar: It’s Facebook.
Roberto Simanowski ist Professor für Medienwissenschaft in Basel
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.