Das Volk billiger machen

Portugal Portugal verarmt zusehends. Doch das Schicksal des Landes prallt an den in Lissabon regierenden Musterschülern des EU-Sparregimes ab

Die Gewerkschaften – sowohl die sozialistische UGT als auch die kommunistische CGTP – nennen es „Politik der verbrannten Erde“. Gemeint ist das gigantische soziale Abbruchwerk, das die Regierung von Ministerpräsident Coelho seit Mai betreibt, um die Vorgaben der Troika aus EU, Europäischer Zentralbank und IWF millimetergenau zu erfüllen. Immer mehr Privatinsolvenzen, Suppenküchen für Obdachlose oder Schulkinder, die ohne warme Mahlzeit am Tag auskommen müssen, sind die Folge.

Mit jeder Kredittranche, die das Land nötig hat, um die Gläubiger seiner Staatsanleihen pünktlich mit Tilgung und Zinsen zu bedienen, muss es Rechenschaft über „umfassende Strukturreformen“ geben, die von der Troika als Imperativ des Haushalts vorgegeben sind. Auf dem internationalen Finanzmarkt gilt Portugal als kreditunwürdig und sieht sich inzwischen auf den Status „BB+“ („Ramschniveau“) zurückgestuft. Staatsanleihen über Banken oder andere Investoren refinanzieren zu wollen, bleibt derzeit ein hoffnungsloses Unterfangen.

Was dem Land unter diesen Umständen von den kreditgebenden Euro-Partnern als Gegenleistung zum Hilfspaket von 78 Milliarden Euro abverlangt wird, ist Resultat einer politischen Erpressung, die vorzugsweise von der deutschen Regierung ausgeht. Kredit gibt es nur, wenn ein Sanierungsprogramm befolgt wird, bei dem die Regierung nur die eine Verpflichtung bleibt: Sie muss durchsetzen, was die Expertenteams der Troika für richtig halten, damit bis 2014 ein Haushalt gilt, dessen Neuverschuldung nicht über drei Prozent liegt, um dadurch an den Finanzmärkten mit den eigenen Schuldpapieren wieder kreditwürdig zu sein.

Regelmäßig erneuert Premier Coelho seinen Schwur, sich bei allen Sparrunden von außerparlamentarischem Widerstand nicht beirren zu lassen. Das hat dem Regierungschef inzwischen den Ruf eines Musterschülers an der EU-Peripherie eingebracht. Dazu wird mit ungenierter Kaltschnäuzigkeit der Lebensstandard beschnitten, der bei einem durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommen von gerade einmal 777 Euro im Jahr 2010 nicht sonderlich üppig ausfällt.

Richtgröße Wachstum

Dies ist den Sachverständigen der Troika, die in Lissabon ein- und ausfliegen, gewiss nicht unbekannt, wenn sie ihren Reformeifer geltend machen. Ungeachtet dessen steigt die Mehrwertsteuer auf eklatante 23 Prozent; werden die Abgaben für Gas, Strom und Transport erhöht. Wer im Öffentlichen Dienst oder in Staatsbetrieben angestellt ist, muss auf das 13. Monatsgehalt verzichten. Das Urlaubsgeld für Angestellte ist gestrichen, wenn das Monatseinkommen über 1.000 Euro liegt. Zugleich hat die Regierung die Arbeitslosenbezüge um ein Viertel gekürzt und deren Bezugsdauer halbiert. Überstundenentgelte werden gedeckelt und Löhne eingefroren, zugleich aber Arbeitszeiten im privaten Sektor um zweieinhalb Stunden pro Woche erhöht. All das sind nur einige Beispiele aus einem Katalog der Kaltschnäuzigkeit, der vorrangig dazu dient, das Volk schlichtweg billiger zu machen und dem Staatshaushalt mehr Einnahmen zu verschaffen.

Auf ihre Art sind die Beamten aus Brüssel, Paris und Berlin da ganz offen. Sie rechnen vor, in Portugal sei das Lohnniveau seit Einführung des Euro um 38 Prozent gestiegen – das jährliche Wachstum im Schnitt nur um 1,1 Prozent. Dass sich dieser Lohnzuwachs für die große Mehrheit in Arbeitseinkommen unter 900 Euro, für 1,5 Millionen Arbeiter sogar unter 600 Euro niederschlägt, tut nichts zu der Sache, die von den Experten vertreten wird. Was sie mit ihrer „Richtgröße Wachstum“ sagen wollen, lautet: die Portugiesen haben „über ihre Verhältnisse gelebt“, anstatt so viel zu arbeiten und so wenig zu verdienen, dass Portugal damit wettbewerbsfähig ist.

Lohnschnitte sind neben den Staatsfinanzen die zweite wesentliche Säule des „umfassenden Reformwerks“, dem Portugal unterworfen wird. Was die Gewerkschaften bei ihrem Generalstreik am 24. November als Angriff der Regierung auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten und ihre sozialen Rechte geißelten, ist im Kern nichts anderes als der Versuch, Arbeit durch gesenkte Löhne und erhöhte Leistung so rentabel zu machen, dass Portugal in der EU-Konkurrenzgesellschaft mit seinen Waren bestehen kann.

Offiziellen Zahlen zufolge haben die Portugiesen seit Mai bis zu einem Fünftel ihrer Einkünfte verloren – doch ist dies längst nicht das letzte Wort eines bis 2013 befristeten Sanierungsprogramms. Man darf es dem Gesandten des IWF ruhig glauben, wenn er prophezeit, „das Schwerste“ stehe noch bevor. Für die Krisenpolitiker in Berlin, Paris und Brüssel sind das erfreuliche Nachrichten, denen sie entnehmen können: Ihr Projekt einer Neuordnung der europäischen Peripherie hin zu einer abgespeckten Stabilitätszone, von der künftig keine Gefahren mehr für den Euro ausgehen, kommt voran.

Der „gute Weg“, auf dem die deutsche Kanzlerin Portugal wähnt, führt dessen Bevölkerung auf recht unmissverständliche Weise vor Augen, dass sich eine solche „Rettung des Euro“ mit ihren Lebensinteressen nicht verträgt.

Roger Büdeler hat zuletzt für freitag.de über Griechenland geschrieben

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