Politik Ohne funktionierende Verwaltung gibt es keine starke demokratische Kultur – das ist in Russland und der Ukraine nicht anders. Die Folgen sind weitreichend
In manchen Ländern löst ein Regierungswechsel Probleme nicht, sondern vergrößert sie noch. Das gilt nicht nur für defekte Demokratien. Selbst eine kompetente Staatsführung muss scheitern, wenn ihr Verwaltungsunterbau zur Umsetzung von Politik nicht fähig ist. Forschungsprojekte der Universität Göteborg zeigten: Je effektiver ein Staat seine Dienste organisiert, je besser er Gesundheit und Bildung gewährleistet, Infrastrukturen und öffentliche Sicherheit garantieren kann, umso größer ist die Zufriedenheit mit der Demokratie und auch die Steuerehrlichkeit seiner Bürgerschaft. Ohne einen funktionierenden Verwaltungsstaat funktioniert offenbar auch die Demokratie nicht.
Wie sehr die Demokratie von der Qualität ihrer Verw
ihrer Verwaltung abhängt, konnte man im Arabischen Frühling oder beim westlichen Demokratieexport in den Irak und nach Afghanistan sehen: Dort scheiterte Demokratisierung nicht zuletzt an Mängeln des Verwaltungsstaates. Er schaffte es nicht, Herausforderungen der Daseinsvorsorge zu bewältigen. Selbst die Aufgabe, den inneren Frieden und die öffentliche Ordnung zu gewährleisten, blieb unerledigt. Zahllose Ausbildungsmissionen für den öffentlichen Dienst, Trainingsprogramme für Polizei und Justiz, Seminare gegen Korruption konnten an dieser Misere wenig ändern. Während der Sturz einer Regierung und die Einsetzung einer neuen wenig Zeit beanspruchen, kann der Aufbau einer geschulten Verwaltung Jahrzehnte dauern.Wie Verwaltungen funktionieren, wird über Jahrhunderte vererbt. „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“, schrieb 1924 der Verwaltungsjurist Otto Mayer. Damals war augenscheinlich, dass mit dem Übergang vom Wilhelminischen Obrigkeitsstaat zur Weimarer Demokratie die Verwaltung dieselbe geblieben war. Und selbst nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der deutsche Verwaltungsstaat weitgehend unverändert. 1945 von der Besatzungsmacht inhaftierte Bürgermeister wurden oft schon nach wenigen Tagen an ihre Schreibtische zurückbeordert, um dringende Verwaltungsaufgaben wahrzunehmen. Die chinesische Verwaltung folgt heute noch Grundsätzen, die sich während der Zhou-Dynastie vor 3.000 Jahren gebildet hatten. Die Verwaltung postkolonialer Staaten ist nachhaltig von den Verwaltungskulturen ihrer europäischen Kolonialherren geprägt. In einigen afrikanischen Ländern tragen Richter immer noch gepuderte Pferdehaarperücken, und zu ihrer Vereidigung spielt eine Dudelsackkapelle.Wem dient der öffentliche Dienst?Die Geschichte verrät oft mehr über bestehende Verhältnisse als die unmittelbare Wahrnehmung der Gegenwart. Das Politik- und Verwaltungserbe eines Landes wirkt sich nachhaltig auf die Problemsicht und das Handlungsrepertoire seiner Regierung aus. Ein Bundesstaat löst seine Probleme anders als ein zentralistischer Einheitsstaat. Länder mit alter Staatstradition zehren bis heute von Verwaltungsgrundsätzen wie Unbestechlichkeit, Fachschulung, Bestenauslese, Staats- und Gesetzestreue.Wem dient der öffentliche Dienst? Auf diese Frage, die ich in Fortbildungsseminaren der früheren Entwicklungsagentur GTZ, des Auswärtigen Amtes und der EU an öffentliche Bedienstete aus Transformationsländern richten konnte, kam selten die korrekte Antwort. Nur das marokkanische Verwaltungspersonal hatte offenbar gelernt, dass Staatsdiener dem Gesetz zu dienen haben. Oft antworteten Beamte aus Ägypten, Tunesien, Guatemala, Moldawien oder Georgien, man diene dem Volk oder gar den Vorgesetzten. Je größer die Konfliktintensität in einem Land, umso mehr wird offenbar das imaginierte Volk und sein Zusammenhalt zur idealisierten Zielgröße der Verwaltungs- und Regierungsführung.Dem Volk zu dienen, schien ukrainischen Staatsbediensteten als höchstes Anliegen, eine Vorstellung, die zu Willkür, Verrat und Korruption einlädt. Dabei gehört das Willkürverbot zum Kernbestand eines jeden Rechtsstaates. Wer einen einheitlichen Volkswillen unterstellt und ihm nach Gutdünken zuarbeitet, dient einem Unstaat, in dem Ideologie, Religion oder Personenkult das Zepter führen. Darin kommt ein antipluralistischer, populistischer Zug zum Ausdruck, der in der Ukraine durch die TV-Satire Diener des Volkes vermittelt wurde. Der Hauptdarsteller gewann im März 2019 die Präsidentschaftswahl und seine Partei Diener des Volkes kurz darauf eine absolute Parlamentsmehrheit. Danach versorgte er Parteigänger, Weggefährten seiner Jugend und Gefolgsleute seines Förderers und Betreibers des TV-Senders, der die Serie ausstrahlte, mit Staatsämtern.Sowjetische TraditionenMan muss nicht spekulieren, wie sich das auf das Land auswirkte. Die ohnehin endemische Korruption ging nach dem Regierungswechsel nicht zurück, sondern ist weiter angewachsen. Im Korruptionsindex von Transparency International rangiert die Ukraine auf Platz 122 nahe Russland auf Rang 132. Wie aus einem Bericht des Europäischen Rechnungshofes von 2021 hervorgeht, zeigt die Bekämpfung der Großkorruption trotz mehrerer EU-Initiativen nur „unzureichende Ergebnisse“. In der vergleichenden Demokratieforschung gilt die Ukraine als „Hybrides Regime“, in dem Ämterpatronage und Amtsmissbrauch, milizionäre Gewaltakteure und Elemente einer Oligarchenherrschaft die Demokratiequalität einschränken. Indes ist die Ukraine immer noch deutlich demokratischer als die Türkei oder Russland, die inzwischen als Autokratien betrachtet werden.Gute Regierungsführung basiert insbesondere auf Dezentralisierung. In dem Sinne berät der seit 2017 amtierende Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Verwaltungsmodernisierung in der Ukraine, Georg Milbradt, die Regierung. Sein am 6. Juni 2022 verlängertes Mandat konzentriert sich auf die Kommunalebene und umfasst nach Milbradts Worten aktuell auch deren „elementare Rolle für den zivilen Widerstand, die Bewältigung der Folgen des russischen Angriffskrieges und den Wiederaufbau einer freien Ukraine“.Die Bundesregierung hat es gleichwohl versäumt, zu einer politischen Regionalisierung der Ukraine beizutragen. Dabei wären deren historisch, kulturell und sprachlich unterschiedlichen Landesteile für eine föderale Verfassung geradezu prädestiniert gewesen. Ob eine einheitsstaatliche Präsidialverfassung wie in der Ukraine oder eine bundesstaatliche Demokratie wie in der Schweiz, Österreich oder Deutschland vorliegt, prägt wesentlich die Konfliktbearbeitung und Aufgabenerledigung im Verwaltungsstaat. Subsidiarität, autonome Aufgabenerfüllung vor Ort führen nicht nur zu besseren Problemlösungen, sondern auch zu einem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen, Sprachgruppen und Religionsgemeinschaften.Dass die Ukraine den in der „Steinmeier-Formel“ vorgesehenen Autonomiestatus seiner Ostprovinzen, ähnlich der Autonomie Südtirols im italienischen Staatsverband, nicht akzeptiert hat, mag neben nationalistischem Überschwang an ihrer sowjetischen Verwaltungstradition gelegen haben. Wie in Russland verwandelte sich das kommunistische Kadersystem, dem man eine Nähe zur Despotie des Zarenreiches nachsagte, in eine von Korruption durchzogene Vetternwirtschaft. Daran hatten westliche Finanzjongleure, Berater und Schockprivatisierer ihren Anteil. Sie waren am erfolgreichsten, wo eine Rechtsstaatstradition fehlte und daher ökonomische Ausplünderung leicht vonstattenging, namentlich in der Ukraine und Russland. Während Russland unter Putin eine Rückkehr zur Verwaltungsdespotie erzwingen konnte, übt sich die Ukraine in demokratischer Transformation, die Veruntreuung, Korruption und Chaos nicht verhindert, sondern – wie im Irak, Afghanistan und vielen Ländern Afrikas – erst ermöglicht. Der Krieg und das Kriegsrecht machen diese Transformation nicht leichter.Vielmehr lauern Vorteilsnahme und Verrat sowie als Antwort darauf staatliche Repression und eine Militarisierung der Gesellschaft. Für einen EU-Beitrittskandidaten könnte sich dies als toxische Mischung herausstellen. Letztlich haben die zentralistische Staatstradition und das Erbe des sowjetischen Kadersystems zur Unversöhnlichkeit zwischen Russland und der Ukraine beigetragen. Beiden Ländern fehlt eine republikanische, von Machtteilung und Selbstverwaltung geprägte verhandlungsdemokratische Kompromisskultur.Placeholder authorbio-1
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