Im Vergleich zur kolumbianischen Jahresproduktion erscheinen selbst große Drogenfunde dürftig
Foto: Eitan Abramovich/AFP/Getty Images
„Willst du wissen, wo Otoniel ist?“ Dorlans Augen blitzen auf. Der rechte Mundwinkel des jungen Mannes zieht sich in einem Lächeln nach oben. „Jeder weiß es – ich, die Armee, die Polizei, die Behörden überhaupt.“ Der Kellner des Cafés steht in Hörweite und regt sich nicht. Dorlan redet nur so frei, weil er am Busbahnhof in Medellín sitzt, nicht in der rund 350 Kilometer weiter nördlich gelegenen Karibikregion Urabá. Dort hat der Clan das Sagen, die Urabeños, formiert aus sogenannten Bandas criminales oder Bacrim. Es handelt sich um Gangs, die aus ehemaligen paramilitärischen Verbänden stammen und sich unter dem Präsidenten Álvaro Uribe (2002 bis 2010 im Amt) einer Demobilisierung entzogen ha
er Demobilisierung entzogen haben. Zu ihren Geschäften gehört der Drogenschmuggel. Und wenn der vom Clan Úsuga bestritten wird, dann steht er garantiert unter dem Kommando von Dario Antonio Úsuga David alias Otoniel. Inzwischen sind von der kolumbianischen Regierung und den USA insgesamt 5,85 Millionen Dollar Lösegeld auf seinen Kopf ausgesetzt.Seit über einem Jahr finden immer wieder Einsätze der Operation Agamenón statt, die sich allein gegen Otoniels Netzwerk richten. Polizei und Militär vermelden Erfolge, nehmen hochrangige Mitglieder und Handlanger fest, fangen Geld- und Drogenlieferungen ab – aber zum ultimativen Erfolg reichte das bisher nicht. Kein Wunder, wenn etwa 12.000 Personen mit dem Clan in Verbindung stehen sollen.Yerison schließt die verwitterte Holztür seines einstöckigen Hauses in Acandí auf, einer etwa 5.000 Einwohner zählenden Kleinstadt. Der 39-Jährige betreibt eine Ortsrufanlage, bei ihm laufen die Informationen über die Gemeinde zusammen. Jeden Morgen um sechs Uhr setzt sich Yerison an seinen alten Tisch und verkündet per Mikrofon und Lautsprecher im Garten, was er an diesem Tag für wichtig hält. Er redet auch über die Urabeños. „Acandí ist für den Clan eine Festung, die Perle in der Krone“, sagt Yerison mit leiser Stimme.Die Lage im äußersten Nordwesten Kolumbiens macht den Ort für die Kriminellen so wichtig. Er ist für den Drogenschmuggel Otoniels das Tor nach Mittelamerika. Hier ist der Weg nach Norden der kürzeste, sowohl zu Lande als auch zu Wasser. Die fehlende Straßenverbindung nach Süden bedeutet zugleich weniger Zugriffsmöglichkeiten für das Militär.Vor 1995 war Acandí Gebiet der FARC-Guerilla, dann kamen rechtsgerichtete Paramilitärs, massakrierten Bauern und vertrieben 300 Familien von ihren Höfen. Als sich deren Terrororganisation Autodefensas Unidas de Colombia (AUC) 2006 auflöste, entstand ein Machtvakuum. Nun haben die Urabeños fast in der gesamten Gegend das Sagen. „Wenn der Clan nicht will, passiert hier absolut gar nichts“, ist sich Yerison sicher.Placeholder infobox-1Zwei Straßen von seiner Rufanlage entfernt hat Bürgermeisterin Lilia Córdoba ihr Büro. Ein Ventilator macht die karibische Hitze erträglicher. „Die Gewalt kommt vor allem von der anderen Seite des Golfs, aus Turbo“, sagt sie. Acandí sei eine ruhige Kommune, in der viele ihr Geld mit dem Tourismus verdienen würden. Und der Clan? Lilia Córdoba antwortet ausschweifend und nichtssagend. Auf mehrmalige Nachfrage erwidert sie, die Polizeiwache im Ort solle ausgebaut werden.Vor einem Flachbau in der Nähe des Rathauses sitzt die vollziehende Gewalt von Acandí auf Plastikstühlen unter einem Sonnendach am Strand – nackter Oberkörper, Sonnenbrille und Tarnhose. Auf einem Holztisch liegen Schnellfeuergewehre. Die Wache sieht aus wie eine Festung – Sandsäcke und Barrieren schützen das Gelände, es gibt Schießscharten und vergitterte Fenster. An der Fassade klebt ein verblichenes Plakat, auf dem Otoniel und seine zur Ergreifung ausgeschriebenen Komplizen zu sehen sind.Aufruf zum StreikDirekt gegenüber dem Rathaus sitzt Álvaro auf einem Plastikstuhl vor dem leeren Hotel seines Bruders. „Natürlich habe ich geschmuggelt, wie fast alle hier“, erzählt der ältere Mann freimütig. „Erst haben wir Whisky mit unseren Booten nach Norden gebracht, dann Koks.“ Irgendwann sei er von den US-Drogenbekämpfern der Drug Enforcement Administration (DEA) geschnappt worden und kam für Jahre ins Gefängnis. Nun übernimmt er Gelegenheitsarbeiten, streicht die Wände des Hotels, ein Gefallen für seinen Bruder, oder räumt auf. Álvaro macht es wie viele Kolumbianer, er arbeitet, ohne offiziell registriert zu sein.Immer wieder lassen die Urabeños am Golf gedruckte Pamphlete verteilen. Sie verkünden Neuigkeiten oder verbreiten Drohungen. Mit Flugblättern rief der Clan Ende März zu einem zweitägigen bewaffneten Streik auf. Videos mit Warnungen kursierten über soziale Netzwerke im Internet. Kaum jemand traute sich aus dem Haus, das öffentliche Leben war gelähmt. Zwei Polizisten wurden erschossen, weil sie die Anweisung ignoriert hatten. Otoniel hatte kurz zuvor ein Kopfgeld auf Polizisten ausgesetzt – die Rache für die Tötung eines engen Vertrauten am Pazifik, der im Departement Chocó pro Monat acht bis zehn Tonnen Kokain geschmuggelt haben soll. Seither bietet der Bandenchef jedem umgerechnet 630 Dollar, der einen Polizisten erschießt.Mindestens 13 Ordnungshüter sind seither getötet worden, unter ihnen drei im beliebten Touristenziel Cartagena, am helllichten Tag bei einer Verkehrskontrolle. Seit der Zeit von Pablo Escobar und dem Medellín-Kartell habe es keine solche Brutalität der Drogenmafia mehr gegeben, urteilt Kolumbiens Generalstaatsanwalt Alejandro Ordóñes. Das zeige, wie mächtig der Clan durch das Kokain geworden sei. Ein Kilo des weißen Pulvers sei in Urabá derzeit ebenso viel wert wie ein Polizistenleben: 630 Dollar. Ein Spottpreis, der jedoch beim Drogentransfer nach Norden mit jeder Hand steigt, die dabei hilft. Eine Hürde ist dabei der Golf.In Turbo, auf der östlichen Seite der großen Meeresbucht, können die Polizisten das Menschengewimmel am überdachten Quai kaum regulieren. Wer nach Acandí übersetzen will, muss am frühen Morgen ein Boot besteigen. An eine gründliche Gepäckkontrolle ist nicht zu denken. Häufig sind jegliche Taschen in Plastiksäcke verpackt, um sie vor Spritzwasser in den offenen Booten zu schützen.Turbo ist die größte Stadt am Golf. „Jeder, der 16 oder 17 Jahre alt ist, bekommt hier eine Waffe und ein Motorrad angeboten“, erzählt Dorlan. Die Gegenleistung für den Clan sind meist Botengänge, von einem Viertel zum nächsten oder übernächsten. Viele führen Aufträge aus und wissen noch nicht einmal, für wen. Muss jemand beseitigt werden, findet sich immer jemand, der keine Fragen stellt, eine Pistole hat und schnell Geld verdienen will. Otoniels Geburtsort Necoclí liegt etwa eine halbe Autostunde entfernt.Offiziell leben die meisten hier von der Landwirtschaft bei einem Mindesteinkommen um die 200 Dollar im Monat. „Sterben oder Lebensmittel oder Koka anbauen“, das seien früher die Optionen in der Region gewesen, sagt ein UN-Mitarbeiter, der seit den 90er Jahren in Turbo wohnt. Der Staat habe sich vollends zurückgezogen trotz des einen oder anderen Massakers. „Es galt der Satz, wenn du nach Turbo fährst, kommst du nicht zurück.“ Heute sei es zumindest auf den Straßen ruhiger geworden, doch zentraler Umschlagplatz für Kokain sei Turbo geblieben.Füße des VordermannsMit Booten überquert die heiße Ware in Kleinstmengen den Golf und wird in Acandí gesammelt. Von dort bringen Kuriere den Stoff auf dem Land- oder Seeweg nach Panama, teils bis Puerto Rico oder bis Mexiko. Honduras soll besonders gefährlich sein, weil dort die gewalttätigen Jugendbanden der Mara Salvatrucha warten. Sie nehmen oft die Schmuggler wie ihre Ladung als Pfand und verlangen dann für beides ein hohes Lösegeld.Die meisten Kuriere fangen als Rucksackträger (mochileros) an mit einem Honorar zwischen 70 und 120 Dollar je abgeliefertes Kilo. Internen Dokumenten der Antidrogenpolizei lässt sich entnehmen, auf welchen Routen die mochileros durch unwegsames, bewaldetes Gelände unterwegs sind. Früher gab es zwischen den Urabeños und den FARC-Rebellen ein Agreement. Die Guerilla kassierte 125 Dollar Transitgebühr pro Kilo Kokain, wenn die Kuriere ihr Gebiet passierten. Oft waren es 15 bis 20 Personen, die hintereinander den schmalen Schmugglerpfaden folgten – die Ermittler sprachen vom „Ameisenlaufen“. Jeder Kurier trug bis zu 25 Kilo und das gut sieben Tage lang. „Es war dramatisch. Ich kenne die Gegend“, sagt Yerison von der Ortsrufanlage. Er selbst habe vor Jahren einen der Wege für den Grenzübertritt genutzt. „Es gab Anstiege, die schienen fast senkrecht nach oben zu führen, so dass man klettern musste und nur noch die Füße des Vordermanns sah. Eine Strapaze, wenn man dazu noch ein Gewehr trug, was viele taten.“Wer alle Gefahren überlebt und eine Tour überstanden hat, der wird „gekrönt“, wie man das in Acandí nennt, verprasst oft seinen Lohn, kauft Drogen für sich selbst und feiert. Junge Kolumbianer wachsen mit dieser Erfahrung auf und übernehmen den Lebensstil ihrer Väter. „Das Problem ist nicht nur der Clan, es ist die Kultur in den Köpfen“, glaubt Yerison. Man sitzt bis in die Nacht in den Cafés und hört dem Narcocorrido zu, mit dem Musiker das harte Los der Drogenschmuggler besingen.Placeholder authorbio-1
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