Bis das Hirn schmerzt

Hartz IV Kann man eine Grundsicherung kürzen? Das BVerfG sagt: Nein. Und: Ja. Wer das Karlsruher Urteil liest, droht irre zu werden
Ausgabe 08/2020

Drei Monate ist es her, seit das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu den Hartz-IV-Sanktionen verkündet hat. Nun kommen die ersten Unionspolitiker aus der Deckung. Karl-Josef Laumann, CDU-Arbeitsminister in Nordrhein-Westfalen, hat einen Vorstoß zur Reform des Sanktionsrechts gemacht. Unterstützt wird er von Parteifreunden und Amtskollegen aus Baden-Württemberg, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern. Laumann ist auch Bundesvorsitzender der christlich-demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), die sich als sozialpolitischer Flügel der CDU versteht. Die Landesministerinnen und -minister aus den Reihen der Union wollen einerseits die besonders drastischen Sanktionen für Hartz-IV-Bezieher unter 25 Jahren abschaffen. Andererseits wollen sie daran festhalten, dass die Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II „im Extremfall“ vollständig gestrichen werden können. Sonst, so fürchten sie, „läuft das System leer“. Es müsse ein „besonderes und weitergehendes Instrument“ geben, für einen „wirklich ganz kleinen Kreis von Leistungsberechtigten“. Zu diesem Kreis gehört, wer „sich Mitwirkungspflichten beharrlich verweigert und reale und zumutbare Arbeitsmöglichkeiten fortwährend und ohne ersichtlichen Grund ablehnt“, heißt es in einer Pressemitteilung des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums. Das ist wahrhaft gespenstisch. Ein ganz kleiner Kreis von Menschen ohne Geld und Einfluss – es handelt sich um Hartz-IV-Empfänger – hat offenbar die Macht, die versammelten Jobcenter der Republik hohldrehen oder, je nachdem wie man „leerlaufen“ versteht, ausbluten zu lassen; vielleicht auch beides.

Die Unionsminster meinen, das Karlsruher Sanktionsurteil lasse den vollständigen Leistungsentzug zu. Tatsächlich erklärt die Entscheidungsformel des Urteils Vorschriften des Sozialgesetzbuchs, nach denen 60 Prozent des Regelsatzes oder gar alle Leistungen gestrichen werden können, für verfassungswidrig. Dieser Widerspruch wird verständlicher, wenn man die 60-seitige Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts studiert.

Nicht-repressive Repression

Die beginnt mit einer großen Exposition des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Gericht betont, dass dieser Anspruch sich auf eine einheitliche Gewährleistung erstreckt, die die physische Existenz genauso umfasst wie die Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben. Der Senat unterstreicht das „nicht relativierbare Gebot der Unantastbarkeit“ der Menschenwürde. Die Menschenwürde, die den Anspruch auf Zurverfügungstellung eines Existenzminimums fundiert, „steht allen zu“, ist „dem Grunde nach unverfügbar“ und „geht selbst durch vermeintlich ‚unwürdiges‘ Verhalten nicht verloren“; sie „kann selbst denjenigen nicht abgesprochen werden, denen schwerste Verfehlungen vorzuwerfen sind“. Das Sozialstaatsprinzip verlange „staatliche Vor- und Fürsorge auch für jene, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert“ seien. Die Verpflichtung zur Sicherung des Existenzminimums „ist auch zur Erreichung anderweitiger Ziele nicht zu relativieren“.

Im zweiten Schritt führt der Senat aus, das Grundgesetz verwehre dem Gesetzgeber nicht, Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, „also nur dann zur Verfügung zu stellen, wenn Menschen ihre Existenz nicht vorrangig selbst sichern können“. Der Nachranggrundsatz wird dann ausgeweitet. Der Gesetzgeber dürfe von jenen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, verlangen, „an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.“ Diese Mitwirkungspflichten dürfe der Gesetzgeber „auch durchsetzbar ausgestalten“. Bis zu diesem Punkt ist das ohne Weiteres nachvollziehbar.

Doch dann nimmt der Text eine überraschende Wendung. Die Durchsetzung könne auch auf dem Wege des Entzugs existenzsichernder Leistungen erfolgen, denn dann diene die Leistungsminderung dazu, dass die Betroffenen ihre Existenz durch Eigenleistung sichern. Der Zweck des Leistungsentzugs soll ihn sozusagen seines repressiven Charakters berauben, sodass es sich eigentlich gar nicht mehr um den Entzug existenziell notwendiger Mittel handelt, sondern ganz im Gegenteil nur um eine besondere Art und Weise ihrer Gewährung. Der Senat erkennt, dass die Sanktionierung der Verletzung einer Mitwirkungspflicht auf dem Wege der Minderung existenzsichernder Leistungen dazu führt, dass „der bedürftigen Person allerdings Mittel“ fehlen, die sie „benötigt, um die Bedarfe zu decken, die ihr eine menschenwürdige Existenz ermöglichen“. Doch das stehe der geheimnisvollen Verwandlung des Leistungsentzugs in eine Maßnahme zur Sicherung der Existenz nicht entgegen.

Der Widerspruch zu dem, was nur wenige Absätze zuvor postuliert wurde, könnte krasser kaum ausfallen. Das ist auch dem 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts aufgefallen. Daher unternimmt er nun zwei Manöver, um das Auge des Betrachters von den Widersprüchen abzulenken. Zunächst werden Leistungsminderungen in zwei Kategorien eingeteilt. Der Senat unterscheidet zwischen Sanktionen, die darauf ausgerichtet seien, „repressiv Fehlverhalten zu ahnden“, und solchen, die darauf zielen, „dass Mitwirkungspflichten erfüllt werden“. Es überrascht nicht, dass offen bleibt, wie genau repressive Sanktionen von solchen zur Durchsetzung von Pflichten zu unterscheiden wären. Denn die Durchsetzung von Pflichten mit dem Mittel des Entzug der zur Existenzsicherung erforderlichen Mittel ist nichts anderes als die repressive Ahndung von Fehlverhalten. Die Sprache eröffnet die Möglichkeit, dasselbe Ding mit unterschiedlichen Wörtern zu beschreiben. Das kann die Unterhaltsamkeit eines Textes fördern oder Gründe einer Entscheidung verschleiern, nicht aber Unterschiede in der Sache erzeugen.

Das zweite Manöver ist ein großer Auftritt. Wie ein Deus ex Machina steigt vom hohen Himmel über dem Gericht herab der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und schickt sich an, vergessen zu machen, was das Gericht wie zur Verstärkung des Effektes unmittelbar vor dem Auftritt noch einmal betont: dass die Mittel zur Existenzsicherung nicht verfügbar sind. Heißt das nicht, dass es verboten ist, die Menschenwürde in ein Verhältnis zu Zielen zu setzen – mit anderen Worten: zu relativieren –, die der Gesetzgeber ansonsten legitimerweise verfolgen darf? Doch Götter können Wunder tun. Als der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, von Theaternebel umwölkt, die Bühne verlassen hat, steht dort wie von magischer Hand geschrieben eine Zahl: 30 Prozent. Der wohlmeinende Entzug existenzsichernder Leistungen verstößt nicht gegen den Menschenwürdegrundsatz, wenn er 30 Prozent des Regelbedarfs nicht übersteigt.

Die Spannung steigt

Wer die Urteilsbegründung aufmerksam liest, hat mittlerweile gemerkt: Hier wird ein Stück gespielt. Die Spannung steigt. Der Verstand sucht nach einer Auflösung der Paradoxie. Doch das Stück folgt seiner eigenen Dramaturgie und wechselt die Szene. Im nächsten Akt werden die Übergangsregelungen, die das Gericht erlassen hat, erläutert. Darauf folgt die Begründung für das Verbot von 60-Prozent-Sanktionen und den vollständigen Entzug existenzsichernder Leistungen. Daneben hebt ein Begleitton an, der immer lauter wird: die Rede von der Ex-ante-Wirkung der Sanktionen, die einerseits nicht zu belegen sei, andererseits aber unterstellt werden dürfe. Das Stück sieht nicht vor, die Widersprüche, in die es sein Publikum verwickelt, aufzulösen. Der Verstand soll Schmerz empfinden. Die dissonante Polyphonie der Argumentationslinien steigert sich mehr und mehr, um schließlich in einer atemberaubenden Klimax zu kulminieren. Nachdem das Gericht über viele Seiten erklärt hat, dass und warum Totalsanktionen mit der Verfassung nicht vereinbar seien, folgt unvermittelt eine abschließende Passage, die erklärt, Totalsanktionen seien grundsätzlich zulässig. Vorhang. Am Ende des Dramas steht ein dunkles Orakel, das wie ein dissonanter Schlussakkord im Raum stehenbleibt. Der Senat sah sich offenbar nicht in der Lage, die scharfen Widersprüche im Begründungstext aufzulösen. Anstelle einer Begründung liefert er eine Sammlung widersprüchlicher Überlegungen, die sich wie das Protokoll einer Brainstorming-Runde lesen. Die Entscheidungsformel ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses. Die frappierende Inkonsistenz der Begründung liefert den Beweis für das, was zu verschleiern sie antritt: Es ist unmöglich, diesen Kompromiss verfassungsrechtlich zu begründen.

Die Angst der vier Unionsminister vor dem gespenstischen kleinen Kreis, der „ohne ersichtlichen Grund“ nicht tut, was er soll, geistert nicht nur durch den politischen Diskurs, sondern auch durch den juristischen. Der sozialpolitische Okkultismus, der seit 100 Jahren das Gespenst des Arbeitsscheuen beschwört, wird durch das Sanktionsurteil nicht überwunden. Laumann und seinen Mitstreitern ist zuzugestehen, dass sich im Sammelsurium der Urteilbegründung auch Bruchstücke finden, aus denen sie Honig saugen können.

Wenn Leistungsberechtigte nicht tun, was die Jobcenter von ihnen erwarten, ohne dass Gründe dafür „ersichtlich“ sind, könnte man sie natürlich einfach aufsuchen und nach ihren Gründen fragen. Man könnte auch fragen, ob dieser „ganz kleine Kreis“ wirklich die Macht hat, das ganze System der wirtschaftlichen Grundsicherung für Arbeitsuchende leerlaufen zu lassen. Aber das könnte dazu führen, dass ein Feindbild verloren ginge, mit dem der sozialpolitische Flügel der CDU – und nicht nur der – gerne Politik macht. Da malt man lieber Gespenster.

Roland Rosenow ist Sozialrechtsexperte. Für den Erwerbslosenverein „Tacheles“ nahm er 2019 als Sachverständiger an der mündlichen Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zu den Sanktionen im SGB II teil

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