Kürzlich brachte der MDR einen Beitrag, der auf Recherchen von Martin Borowsky basierte, einem Richter am Erfurter Landgericht. Es ging in dem sicherlich gut gemeinten Beitrag um die Nazivergangenheit vieler einstiger Richter am Bundesarbeitsgericht (BAG), das seit 1999 seinen Hauptsitz ebenfalls in Thüringens Hauptstadt hat. Das Erstaunliche und zugleich Beängstigende an diesen Recherchen war, dass ausgerechnet Hans Carl Nipperdey fehlte. Dieser Mann war dem Autor wohl entgangen. Und das, obwohl er nicht bloß Mitglied der NSDAP gewesen war, sondern als Jurist das Arbeitsrecht der Nazis ganz maßgeblich geprägt hatte – und nach 1945 unter anderem als Präsident des BAG dafür sorgte, dass das faschistische Arbeitsrecht in der Bundesrepublik erhebl
Der Professor und die Viererbande
Vergangenheitsbewältigung Wie Nazi-Juristen um Hans Carl Nipperdey das deutsche Arbeitsrecht bis heute prägen
ebliche Fortwirkung entfalten konnte.Dass dem Rechercheur also der eigentliche Täter entging, ist schon an sich bemerkenswert. Folgerichtig, aber kaum verzeihlich ist es dann, dass Borowsky die inhaltlichen Spuren des Faschismus im Arbeitsrecht nicht zu erkennen vermag. Offenbar ist selbst diesem geschichtsinteressierten Juristen die Rechtsprechung des BAG dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass er diese aus seiner Betrachtung ausgenommen hatte.In Kurzfassung: Die Frage nach dem faschistischen Arbeitsrecht und seiner Fortwirkung in der Bundesrepublik führt zu einer Gruppe von vier Juristen. Neben Nipperdey waren das die Professoren Alfred Hueck und Rolf Dietz sowie auch Arthur Nikisch. Alle vier waren von 1933 bis 1945 bekennende Nationalsozialisten und überwiegend in der Deutschen Akademie für Recht engagiert. Nipperdey und Hueck waren nicht nur die Hauptkommentatoren des „Gesetzes zur Ordnung der nationalen Arbeit“, 1934 in Kraft gesetzt, sondern hatten es auch verfasst. Nach 1945 konnten alle vier ihre Karrieren fortsetzen, Nipperdey gelang 1954 sogar der Sprung an die Spitze des neu eingerichteten BAG – obwohl er verschiedentlich mit dem weltweit berüchtigten „Blutrichter“ Roland Freisler publiziert hatte.Das auf Nipperdey und Hueck zurückgehende Gesetz von 1934 beseitigte die Reste des Weimarer Arbeitsrechts und verankerte das „Führerprinzip“ in den Betrieben, indem Arbeitnehmer als „Gefolgsleute“ bestimmt wurden. Und als eine Art Zitierkartell sowie aufgrund von Nipperdeys Aufstieg an die Spitze des BAG gelang es dieser Viererbande, nicht wenig von diesem Geist in die Bundesrepublik zu übertragen.Die „Treue“ zum BetriebBesonders in seiner Eigenschaft als Präsident des BAG konnte Nipperdey, der diese Position bis 1963 innehatte, seine Ideologie des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ als „herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung“ in die Nachkriegszeit übertragen. „Rechtsprechung“ hießen dabei die einschlägigen Urteile des BAG unter eben seiner Ägide. Und als „Literatur“ firmierten Lehrmeinungen, die von ihm selbst sowie von Hueck, Dietz und Nikisch vertreten wurden. Später multiplizierten Schüler wie Klaus Adomeit an der Uni Köln diese Positionen.Zu diesen unabhängig von demokratischen Gesetzen im Wege der „Rechtsfortbildung“ und „Rechtsschöpfung“ durchgesetzten Auffassungen gehörte zuvörderst der Umbau des Arbeitsverhältnisses von einem Austausch- zu einem „Gemeinschaftsverhältnis“, das die Interessen des Arbeitnehmers brutal unterordnet. Verbunden damit war eine starke Betonung der angeblichen Treuepflicht von Beschäftigten gegenüber Arbeitgebern und das diesen geschuldete „Vertrauen“. Damit einher ging das Verbot von politischer Betätigung am Arbeitsplatz sowie eine massive Beschränkung der Meinungsfreiheit im betrieblichen Zusammenhang. Konkret ist deshalb Whistleblowing verboten – während Verdachtskündigungen aufgrund gestörten „Vertrauens“ auf Arbeitgeberseite möglich sind – man denke hier an den Fall Emmely, den Rausschmiss einer Supermarktkassiererin unter dem Vorwurf, gefundene Pfandbons im Wert von 1,30 Euro eingelöst zu haben.Aber nicht nur in der Auslegung, sondern auch als Berater bereits bei der Formulierung von Gesetzen konnte die Gruppe um Nipperdey ihre Vorstellungen zumindest in Teilen erfolgreich einbringen – etwa im höchst bedeutsamen Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und in den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder. Diese orientierten sich mit ihrer „Friedenspflicht“ und dem Arbeitskampfverbot, dem Verbot der politischen Betätigung und dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit weitgehend an Ideen einer Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und Belegschaft, die zuvor ausschließlich im faschistischen Gesetz von 1934 verankert gewesen waren – und zwar unter dem Rubrum „Gemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft“.Das Betriebsverfassungsgesetz wurde von der Regierung Konrad Adenauers auf dem Höhepunkt der westdeutschen Kommunistenjagd gegen die Gewerkschaften durchgepeitscht. Als die IG Druck und Papier gegen dieses Gesetz mobilisierte – der erste und einzige politische Streik der bundesrepublikanischen Geschichte –, zeigte sich Nipperdey neben einigen anderen ehemaligen Nazis als treuer Vasall des Kanzlers, indem er gutachterliche Munition gegen die Gewerkschaft anbot. Seit dieser Zeit aber gilt der politische Streik in der Bundesrepublik als angeblich verboten, obwohl wiederum einzigdie von Nipperdey zitierte „herrschende Meinung“ ihn so bezeichnet hatte. Alle späteren Autoren plapperten diese Position, die im europäischen Vergleich einen Sonderfall darstellt, einfach nur nach.Streiks sind unerwünschtDas Grundgesetz nahm Nipperdey nie besonders ernst. Als er sich im Großen Senat des BAG in seiner ersten Entscheidung zum Arbeitskampf äußerte, verkündete er entgegen Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz: „Arbeitskämpfe“ seien „im allgemeinen unerwünscht, weil sie volkswirtschaftliche Schäden verursachen“. Nipperdey schuf sich Gesetze quasi selbst. Fortan galten Streiks grundsätzlich als unerlaubte Handlungen, die eines Rechtfertigungsgrundes bedurften – und Gewerkschaften als womöglich schadensersatzpflichtig.Zwar sind heute viele Auswüchse dieser antidemokratischen Rechtsprechung beschnitten. Doch haben sich bisher weder das Bundesarbeitsgericht noch die „herrschende Meinung“ von diesen Auswüchsen distanziert. Im Gegenteil werden Nipperdey & Co noch immer als große Juristen gefeiert. Allenfalls – und dann ganz leise – lastet man ihnen die Mitgliedschaft in der NSDAP an, nicht aber den Umstand, dass sie zwanzig Jahre lang mit ihrer faschistischen Ideologie das Arbeitsrecht dieser Republik vergiften konnten. Nicht nur in der Ahnengalerie des Gerichts sind sie heute noch alle zu finden, auch in der Rechtsprechung selbst ist ihr Erbe noch lange nicht getilgt. Vielleicht liegt der Ball unter anderem beim Verlag C. H. Beck, der 1943 die vierte Auflage von Nipperdeys und Huecks Kommentar zum faschistischen Arbeitsrecht veröffentlichte.Placeholder authorbio-1