"Ich fürchte, dass wir das Spektrum, das von uns eine andere Politik, einen Politikwechsel erwartete, verprellt haben", sagte die grüne Bundestagsabgeordnete Annelie Buntenbach kürzlich in einem Gespräch zur Halbzeit der Schröderschen Koalition. Die meisten Autoren die seit Anfang September im Freitag versucht haben, für die Bereiche Rente, Außen-, Gleichstellungs-, Frauen- und BildungsPolitik eine Bilanz der letzten zwei Jahre Regierungsarbeit zu ziehen, teilen dieses kritische Fazit. Auch Rolf Gössner, der sich mit der BürgerrechtsPolitik von Rot-Grün auseinandersetzt und begründet, dass trotz vieler mutiger Ansätze kein Neuanfang gelungen ist. Im Gegenteil, die Koalitionäre verfolgten ein Rationalisierungskonzept, für das einer konservativen Regierung die Wut einer außerparlamentarischen Opposition entgegengeschlagen wäre.
Auch wenn die rot-grüne Bundesregierung in den letzten zwei Jahren Einiges auf der Haben-Seite verbuchen kann - in der Politik der "Inneren Sicherheit" - und damit in der BürgerrechtsPolitik - muss man die Erfolge mit der Lupe suchen. Besonders ein Minister mit all seinen biografischen Brüchen sorgt für sicherheitspolitische "Kontinuität und Normalität": Otto Schily - einst eloquenter RAF-Verteidiger, nun exekutiver Staatsschützer. Wenn man den SPD-Bundesinnenminister gelegentlich so reden hört, muss man unweigerlich an seinen Vorgänger Manfred Kanther denken, den geldwaschenden Law-and-order-Mann der CDU: "Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands" durch Zuwanderung sei bereits "überschritten". Mit Schily con Kanther rückwärts in die Zukunft?
Schily hat mit seinen stammtischkompatiblen Anmerkungen zum "Ausländerproblem" dem rechten "Ausländer-raus"-Geschrei gleichsam regierungsamtliche Legitimation verschafft und (nicht nur) den rechten Rand begeistert. Doch der Hardliner ist keineswegs ein "Rechtsaußen" in der SPD-Landschaft, sondern Repräsentant einer in dieser Partei vorherrschenden Law-and-order-Mentalität mit Tradition: Schon in den sozialliberalen siebziger Jahren und während ihrer Oppositionszeit - zuweilen in faktisch Großer Koalition mit der rechtsliberalen Bundesregierung - hat die SPD diese Haltung unter Beweis gestellt. Zuletzt beim Großen Lauschangriff mit Otto Schily als Geburtshelfer. Der konvertierte Ex-Grüne wirkt noch immer "schärfer", als es eine Bundesregierung mit Rücksicht auf den grünen Partner eigentlich vertragen könnte.
Im Herbst 1998 hofften viele bürgerrechtsbewegte Kräfte nach 16 Jahren Kohl Kanther auf einen Politikwechsel, gerade im Bereich der "Inneren Sicherheit". Sie erwarteten eine spürbare Liberalisierung und die Stärkung der jahrzehntelang malträtierten Bürgerrechte. Aus dem Ende der Bescheidenheit wurde rasch ein Ende der Illusionen: Die 6-Prozent-Schwäche der Grünen, die sich in der Vergangenheit durchaus den Ruf einer Bürgerrechtspartei erworben hatten, führte rasch zu Ernüchterung. In diesem Hardcore-Politikfeld musste sich der kleine grüne Part der Sozi-Domina besonders tief "beugen".
Eine von den Grünen versprochene "humane Asyl- und FlüchtlingsPolitik" ist jedenfalls mit der SPD nicht zu machen, hatte diese doch schon in ihrer Oppositionszeit tatkräftig an der Demontage des Asylgrundrechts mitgewirkt. Angesichts der fatalen Folgen dieser Mittäterschaft klingt es eher zynisch, lediglich die lange Dauer der prinzipiell inhumanen Abschiebehaft und des umstrittenen Flughafenverfahrens "im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes" überprüfen zu wollen, wie es im Koalitionsvertrag steht. Heiko Kauffmann, Sprecher von "Pro Asyl", nennt die Asylpraxis unter Schily denn auch "staatlich organisierte Diskriminierung". Es sei wenig versprochen und praktisch nichts gehalten worden.
Da kann man schon heilfroh sein, dass die von der früheren Regierung so einfallslos betriebene Rüstungsspirale sich nicht weiter dreht. Doch wie steht es um die Wiederherstellung der Bürgerrechte, wie um sozial- und bürgerrechtsverträgliche Lösungsansätze? "Entschlossen gegen Kriminalität und entschlossen gegen ihre Ursachen", so lautet die rot-grüne "Leitlinie" im Koalitionsvertrag. Das heißt wohl im Klartext: Der bisherigen polizei- und strafrechtsdominierten KriminalPolitik wird keine deutliche Absage erteilt. So wird unter Rot-Grün fast bruchlos auf die repressive KriminalPolitik im Geiste Kanthers und seiner Vorgänger aufgebaut: Kein einziges noch so bürgerrechtsschädliches Repressionsinstrument, etwa die "Anti-Terror"-Gesetze, der Große Lauschangriff, die verdachtsunabhängige "Schleierfahndung", die Hauptverhandlungshaft, wurde revidiert oder wenigstens gestutzt. Mit einer Ausnahme: Die umstrittene Kronzeugenregelung in den Bereichen "Terrorismus" und "Organisierte Kriminalität" ist Ende 1999 ersatzlos ausgelaufen. Die ebenso fatale Kronzeugenregelung im Drogenbereich bleibt allerdings unangefochten. Apropos DrogenPolitik: Auch sie ist im Kern repressiv geblieben, obwohl der Koalitionsvertrag durchaus einen richtigen Weg weist - nämlich die Problematik tendenziell aus dem strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen zu verlagern. Doch ein paar rot-grüne Modellversuche reichen nicht aus, um Beschaffungskriminalität und organisiertem Drogenhandel die Geschäftsgrundlage zu entziehen.
Den rot-grünen Koalitionären ist in Sachen Bürgerrechte kein Durchbruch gelungen - von einigen Ausnahmen abgesehen. Dazu gehören die Reform des antiquierten Staatsbürgerschaftsrechts, die geplante Einführung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz und die Schaffung eines allgemeinen Akteneinsichtsrechts, aber auch positive Ansätze zum "Schutz der Schwachen durch Recht" mithilfe eines verbesserten Opferschutzes und eines Antidiskriminierungsgesetzes.
Doch das Manko in der BürgerrechtsPolitik ist weder mit diesen Aktiva noch mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts aufzuwiegen. Diese recht eingeschränkt realisierte Reform, immerhin ein Schritt auf dem richtigen Weg, ist teuer erkauft mit dem Verzicht auf ein humanes Asyl- und Ausländerrecht; mit dem Verzicht auf eine liberalisierte KriminalPolitik, auf eine demokratische Polizeireform, auf eine Reduzierung und Entschleierung der Geheimdienste, die über die Verbesserung der parlamentarischen Kontrolle hinausreicht - letztlich mit dem Verzicht auf ein wirkliches Umsteuern in der gesamten Politik der "Inneren Sicherheit".
Was sich in diesem Politikfeld stattdessen abzeichnet, ist eine bloße Modernisierung und Effektivierung des etablierten Sicherheitsstaates, eine Verschlankung, Flexibilisierung und Beschleunigung seiner Strukturen und Arbeitsweisen. Die Debatte um neue Sanktionen - polizeilich verhängtes Strafgeld, Fahrverbot, elektronische Fußfesseln etc. - illustriert diese Tendenz zur Ausdifferenzierung und letztlich zur Erweiterung des staatlichen Repressionsarsenals nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip. Es scheint wiederum der alten Sozialdemokratie - ähnlich wie schon in den siebziger Jahren - die Rolle zuzufallen, den Staat nach Krisen und Agonie unter rechtsliberaler Regentschaft einem Modernisierungsprozess zu unterziehen - diesmal mit den "radikalnormal" (Heribert Prantl) gewordenen Grünen als Juniorpartner, die dabei nicht nur ihren Ruf als Bürgerrechtspartei, sondern ihre Existenz aufs Spiel setzen. Eine solche Modernisierung, mit all ihren prekären Begleiterscheinungen und sozialen Verwerfungen, ist traditionellerweise nicht Sache der Konservativen. Ihnen würde vermutlich der außerparlamentarische Protest wesentlich heftiger entgegenschlagen, als einer - vermeintlich oder tatsächlich - fortschrittlicheren Regierung unter Führung der Sozialdemokratie und unter Beteiligung der Grünen.
Gleichwohl trägt Rot-Grün für viele noch immer den Hoffnungsschimmer in sich, dass den früher systematisch malträtierten Grund- und Bürgerrechten wieder die Geltung verschafft werde, die ihnen nach dem Anspruch einer freiheitlichen, demokratisch verfassten Gesellschaft und eines liberalen Rechtsstaates zukommt. Ein solcher Prozess bedürfte jedoch - zur Stärkung des bürgerrechtlich-grünen Spektrums - dringend der Einmischung von unten und von Seiten der bürgerrechtsorientierten Kräfte in diesem Land. Doch leider fehlt immer noch ein entsprechend aktivierendes gesellschaftliches Reformklima ...
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