Mit dem "Verbrechensbekämpfungsgesetz" sind 1994 die Abhörbefugnisse des Bundesnachrichtendienstes erheblich ausgeweitet worden. Größte Kritiker damals: die Grünen. Nach einer Rüge des Bundesverfassungsgerichts 1999 hatten sie die Chance, nun in der Regierung die parlamentarische Kontrolle zu verbessern. Gleichzeitig aber hat die Koalition das Urteil zum Anlass genommen, die Abhörbefugnisse der Geheimdienste insgesamt auf schnellen Sohlen auszuweiten. Eine rot-grüne "Verschlimmbesserung", die noch am Mittwoch im Innenausschuss beraten wurde.
Kann denn ein literarisches Gespräch über Fräulein Smillas Gespür für Schnee verdächtig sein? Und für einen bundesdeutschen Geheimdienst von Interesse? So absurd die Frage klingen mag - falls es sich um ein Telefongespräch handelt, das mit einem Gesprächspartner im Ausland geführt wird, lautet die Antwort: Ja! Das grundgesetzlich geschützte Fernmeldegeheimnis ist geheimdienstlich verletzbar.
Der Bundesnachrichtendienst (BND) darf nach dem Abhörgesetz zur Beschränkung des Fernmeldegeheimnisses, kurz G-10-Gesetz, den gesamten drahtlosen Fernmeldeverkehr vom und ins Ausland systematisch überprüfen; und zwar losgelöst von jeglichem Verdacht. Seit 1994 darf der Auslandsgeheimdienst mit Hilfe technischer Großanlagen Gespräche, Faxe und Fernschreiben computergesteuert nach verdächtig klingenden Suchbegriffen oder Wort-Kombinationen aus wechselnden Datenbanken durchkämmen, die dem internationalen Terrorismus, Waffenhandel und der Drogenkriminalität zugeordnet werden. Auch auf zuvor eingespeicherte Stimmprofile und Rufnummern können die Computer inzwischen reagieren. Einen "Staubsauger im Äther" hat der zuständige Abteilungsleiter des BND diese automatisierte Methode der "strategischen Kontrolle" einmal genannt. Man könnte dieses Fischen im Trüben des verallgemeinerten Verdachts aber auch einfach "Schleppnetzfahndung" nennen.
1998/99 waren knapp 7.000 Suchbegriffe in die Wortbanken der BND-Computeranlagen eingespeichert, nach denen der internationale Massen-Fernmeldeverkehr durchforstet wurde. Ordert etwa jemand per Telefax in Ungarn zehn Kisten "Roten", wird die Bestellung mit einiger Wahrscheinlichkeit aufgefangen - auch wenn nur Rotwein gemeint war, schließlich ist auch eine andere Droge denkbar, die im Unterschied zum Alkohol als illegal gilt: "Roter Libanese". Und so könnte eben auch der literarische Austausch über Fräulein Smillas Gespür für "Schnee" wegen Verdachts auf Kokain-Handel Komplikationen auslösen. Ebenso könnten Berichte über "Bombenwetter" oder volle "Strandhaubitzen" an Mallorcas Stränden den Geheimdienstlern internationale Waffengeschäfte signalisieren. Oder ein Journalist recherchiert per Telefon oder Fax über die baskische ETA, die italienischen Roten Brigaden oder die Mafia - schon forscht der Geheimdienst ihm und seinen Informanten nach, die möglicherweise Kontakte zum internationalen Terrorismus haben. Der gesetzlich garantierte Informantenschutz bleibt dabei auf der Strecke.
Schallende Ohrfeige des Verfassungsgerichts
Nicht nur für Journalisten, für alle Bürger, die Kontakte ins Ausland pflegen, können auf diese Weise internationale Gespräche zu geheimdienstlichen Verwicklungen führen. Jährlich fängt der BND mit seinem "elektronischen Staubsauger" aus vielen Millionen von Kontakten etwa 5,5 Millionen drahtlose Satelliten-Fernmeldeverbindungen auf. Im Laufe der maschinellen Durchforstung dieser Verbindungen bleiben pro Jahr über 15.000 Auslandsgespräche oder (seit 1997) auch Faxe als "nachrichtendienstlich relevant" hängen, aus denen dann jährlich zwischen 3.000 und 6.000 "heiße" Fälle herausgefiltert werden, um "manuell", also auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln und Methoden wie V-Leute oder Wanzen weiter zu ermitteln.
Darüber hinaus ist der Auslandsgeheimdienst ermächtigt, die aufgefangenen Erkenntnisse nicht nur anderen Geheimdiensten, sondern auch Ermittlungsbehörden - Zollkriminalamt, Staatsanwaltschaften oder Polizei - zu übermitteln, soweit dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist. Auch wenn das nicht allzu häufig vorkommt, gerade hier bei der Datenübermittlung hat das Bundesverfassungsgericht 1999 Verfassungswidriges entdeckt (Az.: 1 BvR 2226/94 u.a.): Personenbezogene Daten dürfen nicht beliebig verwendet und an Strafverfolgungsorgane übermittelt werden; es bedürfe vielmehr eines konkretisierbaren Straftatverdachts gegen den betreffenden Fernmeldeteilnehmer, so die Richter. Weitergegebene Daten müssten außerdem künftig gekennzeichnet und protokolliert werden, um die datenschutzrechtliche Kontrolle zu verbessern. Auch die parlamentarische Aufsicht müsse gestärkt und, im Falle der Datenweitergabe, die nachträgliche Unterrichtung der Betroffenen zur Regel gemacht werden, hieß es abschließend.
Das Abhör-Urteil war eine schallende Ohrfeige für den damaligen Bundesgesetzgeber, der in seinem Verfolgungseifer mit dem "Verbrechensbekämpfungsgesetz" 1994 offenbar gegen die Verfassung verstoßen hatte. Deshalb, so der gerichtliche Auftrag, müsse das Gesetz bis Mitte 2001 entsprechend nachgebessert werden. Viele Datenschützer bejubelten damals die Entscheidung. Doch gibt es tatsächlich Grund zum Jubeln?
Wundersame Übererfüllung des Richter-Auftrags
Die rot-grüne Bundesregierung kommt nun mit ihrem Gesetzentwurf vom 26. März 2001 (BT-Drs. 14/5655) der Verpflichtung gerade noch rechtzeitig nach. Und sie erfüllt ihr Soll, indem sie die parlamentarische und datenschutzrechtliche Kontrolle über die Abhörmaßnahmen erheblich verbessert: Sowohl die Unterrichtungspflichten der Bundesregierung gegenüber dem Parlamentarischen Kontrollgremium werden erweitert als auch des Kontrollausschusses der so genannten G-10-Kommission. Alle Mitglieder oder Beauftragte des Gremiums dürfen künftig nicht nur die ministerielle Anordnung der Abhörmaßnahmen kontrollieren, sondern den gesamten Prozess der Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten. Außerdem können die Kommissionsmitglieder Auskunft und Einsicht in alle relevanten Unterlagen und Zutritt in jeden Dienstraum der beteiligten Behörden verlangen sowie die Löschungs- und Übermittlungsprotokolle einsehen. Auch die für diese Kontrollen zusätzlich notwendige Personal- und Sachausstattung ist wenigstens dem Entwurf nach gewährleistet.
Unter Verweis auf diese verfassungsrechtliche Pflichterfüllung versuchen nun insbesondere bündnisgrüne Innenpolitiker im Bundestag die gesamte Gesetzesnovelle zu rechtfertigen. Auch der grüne Parteilinke Hans-Christian Ströbele, eigentlich einer der noch wenigen verbliebenen Geheimdienstkritiker, spricht "angesichts der Kräfteverhältnisse in der Koalition" von einem für die Grünen "vertretbaren Kompromiss" und stellt vor allem die "deutliche Verbesserung" des Grundrechtsschutzes ("Informationelle Selbstbestimmung") durch die Novellierung heraus. Würde es dabei bleiben, wäre die Reform aus bürgerrechtlicher Sicht akzeptabel. Aber leider ist das nicht alles: Denn die rot-grüne Bundesregierung nimmt den Novellierungsauftrag zum Anlass, die geheimdienstlichen Abhörbefugnisse gehörig auszuweiten: Laut Gesetzentwurf soll zwar die Dichte der Kontrollen nicht erhöht werden, doch gleichzeitig beziffert er die künftige Kapazität der Erfassungen auf 100.000 Gespräche. Eine "wundersame Vermehrung", sagt der Vorsitzende der Humanistischen Union, Till Müller-Heidelberg, hatte der BND selbst die eigene Kapazität noch in Karlsruhe mit 15.000 angegeben.
Der Grund dafür sind Befugnisausweitungen, die nur zum Teil der technologischen Weiterentwicklung des internationalen Fernmeldeverkehrs geschuldet sind: Neben der (immer seltener genutzten) satelliten-gestützten internationalen Telekommunikation darf der BND nun auch in Glasfaserkabel hineinhorchen: eine enorme Ausdehnung. Darüber hinaus dürfen sich die Geheimdienstler nun auch einschalten, wenn es um Aufklärung von Geiselnahmen im Ausland geht ("lex Jolo") und - eine dritte, nicht unwesentliche Erweiterung - zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Die Schwelle zur sicherheitsstaatlichen Machtkonzentration ist überschritten
So sollen geheimdienstliche Telefonabhöraktionen gegen Einzelpersonen künftig auch beim Verdacht der Volksverhetzung und weiterer relativ gewichtiger Einzeldelikte (§ 130 und § 129 a Strafgesetzbuch) angeordnet werden können. Es ist naheliegend, dass sich diese Erweiterung der Individualkontrolle nicht nur gegen Neonazis, sondern auch gegen Linke oder Ausländer und deren Umfeld richten kann - gleichgültig, ob man etwa den neu einzufügenden Verdacht auf "Volksverhetzung", auf "gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr" oder auf "Störung öffentlicher Betriebe" nimmt. Ein solcher Verdacht soll künftig zu Abhöraktionen auch gegen Einzelpersonen, die keiner mutmaßlichen "Terroristischen Vereinigung" angehören, führen können. In den beiden letztgenannten Fällen könnten Atomkraft- und Castor-Gegner Objekte der geheimdienstlichen Begierde sein. Einzige Einschränkung für den schwerwiegenden Eingriff in das Fernmeldegeheimnis: Die Straftaten müssen sich "gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten", heißt es in der Gesetzesnovelle. Mit diesen Befugniserweiterungen werden die Geheimdienste, noch weitergehend als bislang schon, systemwidrig in die Strafverfolgung eingespannt, für die eigentlich Polizei und Staatsanwaltschaften zuständig sind. Ein weiterer Verstoß gegen das verfassungskräftige Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei, mit dem ursprünglich eine sicherheitsstaatliche Machtkonzentration verhindert werden sollte. Und die Vertraulichkeit des gesprochenen Wortes und das Telekommunikationsgeheimnis werden noch weiter als bisher eingeschränkt.
Die rot-grüne Bundesregierung hält es also nicht für nötig, bürgerrechtswidrige Altlasten aus der Ära Kohl Kanther zu entsorgen - obwohl die heutigen Regierungsfraktionen in Oppositionszeiten lautstark gegen die neue BND-Befugnis der automatisierten "strategischen Kontrolle" des Fernmeldeverkehrs opponiert hatten. Heute baut die rot-grüne Regierung weitgehend auf die damals beschlossenen Gesetze auf - und weitet sie sogar noch aus. Damit wird jene fatale Sicherheitskonzeption festgeschrieben, in der die Bürger dem Staat als potenzielle Sicherheitsrisiken gegenüberstehen - Sicherheitsrisiken, die jederzeit und allerorten staatlicher Kontrolle unterzogen werden müssen. Das Durchkämmen des internationalen Fernmeldeverkehrs ohne Verdacht durch den BND ergänzt die in den vergangenen Jahren legalisierte Möglichkeit der Polizei, jederzeit verdachtsunabhängige Kontrollen, so genannte Schleierfahndungen, im inländischen Bahn-, Flug- und Straßenverkehr oder anlassunabhängige Videoüberwachungen im öffentlichen Raum durchzuführen.
Zumindest die Bündnisgrünen hätten in ihren besten Oppositionszeiten solche Weiterungen geheimdienstlicher Befugnisse vehement bekämpft, weil sie letztlich die weitere Stärkung von Geheimdiensten bedeuten. Es waren doch gerade sie, die sich als Bürgerrechtspartei verstanden und deshalb die Geheimdienste mittelfristig abbauen und langfristig auflösen wollten, weil solche geheimen, mit nachrichtendienstlichen Mitteln arbeitende Institutionen mangels Transparenz demokratiewidrig und prinzipiell unkontrollierbar seien. Doch von dieser politischen Position hat sich ein beachtlicher Teil der Partei offenbar längst gelöst.
Rechtsanwalt Rolf Gössner ist parlamentarischer Berater der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag und Sachbuchautor. Zuletzt erschienen: Big Brother Co. - Der moderne Überwachungsstaat in der Informationsgesellschaft, Konkret Literatur Verlag, Hamburg 2000.
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