"Wir können auch anders!"

DER STAATSSCHUTZ IN GORLEBEN Wo heute polizeiliche Konfliktmanager für Vertrauen werben, wurden bis vor zwei Jahren die Atomkraftgegner systematisch ausgeforscht

Wenn in wenigen Tagen der Castor durch das Wendland rollt, rechnet die Polizei mit massivem Widerstand und zahlreichen, auch gewalttätigen Protestaktionen. Das niedersächsische Innenministerium richtet sich schon lange auf "einen ähnlichen Einsatz wie beim letzten Mal" ein, großflächige Versammlungsverbote wurden bereits verhängt. Das verheißt nichts Gutes: Vor vier Jahren wurden rund 30.000 Polizei- und Bundesgrenzschutz-Beamten um Gorleben zusammengezogen; mit Kosten von über 110 Millionen Mark war das der bis dahin größte und teuerste Polizeieinsatz seit Bestehen der Bundesrepublik. Dabei kam es zu gewalttätigen Räum- und Festnahmeaktionen, zu polizeilichen Übergriffen und Misshandlungen, zu zahlreichen, teilweise erheblichen Verletzungen. Doch dieses Mal soll alles anders werden.

Die Polizeiführung hat ein neues Konzept mit dem verheißungsvollen Titel "Einsatzbegleitende Öffentlichkeitsarbeit und Konfliktmanagement" entwickelt. Eine softe, besonders geschulte Polit-Polizei-Truppe, ausgestattet mit knallroten Windjacken, wirbt bereits im Vorfeld des Transports in der wendländischen Bevölkerung mit psychologischem Geschick für Vertrauen und Verständnis. Wofür? Für die schwierige Arbeit der Polizei, die das Wendland in einen Ausnahmezustand versetzt hat; für die schwierigen Räumarbeiten der Polizei, die dann in letzter Konsequenz - ganz ohne Polizeipsychologie - wieder die berüchtigte "Prügeltruppe" aus Berlin erledigen wird, die sich bereits bei den letzten Castor-Transporten gegenüber den friedlich dasitzenden Blockierern als "Knochenbrecher" (taz) hervorgetan hatte. Polizeiliche Arbeitsteilung, Widerstreit zweier Linien - oder schlicht zwei Seiten ein und derselben Medaille? Der witzig gemeinte Button, den die polizeilichen Konfliktmanager am roten Revers tragen, scheint mit dieser Kehrseite spielerisch zu drohen: "Wir können auch anders!"

Noch ganz anders kann der polizeiliche Staatsschutz. Die Einsichtnahme in die Akten eines inzwischen eingestellten Ermittlungsverfahrens gegen Atomkraftgegner brachte erst kürzlich Ausmaß und Intensität der polizeilichen Überwachungsmaßnahmen im Wendland exemplarisch an den Tag. Im September 1996 war ein ICE bei Hildesheim liegengeblieben, weil die Oberleitung beschädigt war - die Ermittlungsbehörden führten das auf den Einsatz einer so genannten Hakenkralle zurück und eröffneten ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr. Es richtete sich gegen den Besitzer eines Fahrzeugs, das in der Nähe der Bahnstrecke gesichtet worden war; er wird der "aktiven AKW-Gegner-Szene" zugerechnet.

Im Zuge der verdeckten Ermittlungen ist der Hof, auf dem der Verdächtigte zusammen mit zwei Vorstandsmitgliedern der Bürgerinitiative (BI) Umweltschutz Lüchow-Dannenberg e.V. lebt, ein halbes Jahr lang vom niedersächsischen Staatsschutz systematisch ausgeforscht worden. Drei Telefon- und Faxanschlüsse wurden überwacht und zwischen Oktober 1996 und März 1997 über 4.200 Telefongespräche abgehört und protokolliert sowie über 400 Fax-Nachrichten aufgefangen. Das Fahrzeug der Atomkraftgegner wurde mit einem satellitengestützten Peilsender versehen, um dessen jeweilige Position zu orten und im Wagen klebte eine Wanze, um Gespräche der Insassen während der Fahrt belauschen zu können. Vom Amtsgericht Hildesheim wurde dafür der Polizei gestattet, den PKW heimlich zu öffnen, falls nötig, sogar vorübergehend in eine Werkstatt zu verbringen. Ein Mobiles Einsatzkommando verfolgte das Fahrzeug bei Privat- und Geschäftsreisen, ob zu Messen oder Weihnachtsmärkten. Die Bewohner wurden außerdem von mehreren Zivilbeamten in Formation einer "Observationsglocke" beobachtet. Damit sollten, so der Auftrag, umfassende Bewegungs- und Kontaktbilder der Zielperson erstellt werden.

Wie den Ermittlungsakten zu entnehmen ist, wurden die Telefongespräche aller Nutzer unterschiedslos erfasst, auch intimen Inhalts, etwa mit einem Heilpraktiker oder einem Rechtsanwalt, und auch die Gespräche der Kinder. Mehr als die Hälfte der aufgezeichneten Gespräche betrafen nicht die ursprünglich verdächtigte Zielperson, sondern Mitbewohner, unter ihnen das BI-Vorstandsmitglied Rosemarie Schoppe und der BI-Sprecher Mathias Edler. Und unter den Gesprächsteilnehmern am anderen Ende der Leitung fanden sich neben Eltern, Geschwistern und Freunden der Betroffenen auch der BI-Sprecher Wolfgang Ehmke, die Vorsitzende der grünen Landtagsfraktion, Rebecca Harms und der Politikwissenschaftler Jürgen Seifert.

Diese Aufzeichnungen wurden nicht etwa, wie datenschutzrechtlich erforderlich, sofort gelöscht, sondern sogar noch an den Generalbundesanwalt übermittelt - obwohl diese Kontakte nichts mit dem Ermittlungsverfahren zu tun hatten und intern als "nicht relevant" deklariert wurden. Und trotz eines bereits im Juli 1997 verfassten Schlussberichtes des Landeskriminalamts, in dem die Verdachtsmomente gegen die Verdächtigten "trotz umfangreicher Ermittlungen" nicht bestätigt werden konnten, wurde das Verfahren erst Ende August 1999 mangels Tatverdachts eingestellt.

Offenbar haben die Sicherheitsbehörden die in die Länge gezogenen Ermittlungen genutzt, Arbeit, Organisationsstrukturen und Kontakte der Bürgerinitiative und damit des Anti-Atomwiderstands im Wendland in aller Ruhe auszukundschaften, indem sie die Kontakte nicht beschuldigter BI-Vorstandsmitglieder überwachten und ausforschten. Der Hamburger Anwalt der Betroffenen, Dieter Magsam, sprach angesichts dieser systematischen Überwachung.

Solche Erfahrungen zeigen: Klandestine Vorfeld-Ausforschung durch Staats- und Verfassungsschutz, vertrauensbildende Konfliktmanager in roten Anoraks, bürgerkriegsähnliches Polizeiaufgebot und hart zupackende Greiftrupps sind Teile einer "ganzheitlichen", ausdifferenzierten Polizeistrategie. Da dürfte es polizeilichen Konfliktmanagern schwer fallen, für Vertrauen und Verständnis zu werben.

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