Der politische und wissenschaftliche Mainstream ist sich einig - die deutsch-deutsche Einheit ist längst vollzogen. Tatsächlich konnten die neuen Bundesländer in kurzer Zeit und ohne größere Konflikte in die Bundesrepublik alt integriert werden - sie ist nach der Vereinigung einst entgegengesetzter Systeme heute ein integriertes Staatswesen. Die historisch entstandenen Ost-West-Ungleichheiten bei den politischen und sozialen Strukturen, aber auch bei der Wohlfahrtsentwicklung sind nach zehn Jahren Einheit ausgeglichener. Die neuen Bundesländer haben sich - mit großen regionalen Disparitäten - bereits beachtlich gewandelt. Kein Wunder also, dass alle Parteien - voran die "Einheitspartei" CDU/CSU, aber ebenso die SPD und nun auch die PDS - ihren Anteil am Gelingen dieses ungeplanten, historischen Experiments herausstreichen. Der Blick sei nun endlich wieder frei für die gesamtdeutschen Herausforderungen im globalen Kontakt. Daran gemessen seien die noch zu lösenden Probleme Ostdeutschlands und der Vereinigung peripher, auf jeden Fall nicht dramatisch - die Wirklichkeit freilich sieht etwas anders aus.
Genau betrachtet ist die gesamtdeutsche Bundesrepublik heute eine "dualistische Vereinigungsgesellschaft". In ihr bestehen zwei unterschiedliche Wirtschaftsräume, Parteienteilsysteme, Kultur- und Kommunikationsräume. Ostdeutschland bleibt eine spezifische Teilgesellschaft in der Bundesrepublik, und es ist noch nicht entschieden, ob sie den Weg einer alimentierten Sonderzone oder einer zukunftsfähigen Entwicklungsregion beschreitet. Trotz der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um über 40 Prozent seit 1991 ist die ostdeutsche Wirtschaft in wesentlichen Bereichen eine Transferökonomie. Das BIP pro Einwohner liegt bei 60 Prozent des "Westniveaus". Der ostdeutsche Anteil am gesamtdeutschen Export beträgt sechs Prozent. Das eigentliche Problem aber besteht darin, dass die Antriebskräfte für eine selbsttragende Entwicklung nicht ausreichen und die Schere zwischen Ost und West sich seit drei Jahren nicht weiter schließt, sondern wieder öffnet. Der Osten bleibt vom konjunkturellen Aufschwung des Landes in wichtigen Belangen abgekoppelt. Die Arbeitslosenquote ist in den neuen Bundesländern gegenwärtig doppelt so hoch wie in den alten - bis 2001 wird der Abstand von 16,8 Prozent (Ost) zu 6,8 (West) ein bislang nicht gekanntes Ausmaß erlangen. Wer mag angesichts solcher Befunde da überhaupt noch auf strukturelle Asymmetrien verweisen - bei der Verteilung des Produktivvermögens, des Grund- und Immobilienbesitzes, des Anteils der Ostdeutschen am gesamtdeutschen Führungspersonal.
Die Ostdeutschen selbst haben sich mehrheitlich auf die Bundesrepublik eingelassen und befürworten die parlamentarische Demokratie, aber 70 Prozent sehen sich weiterhin als "Bürger 2. Klasse". Vier Fünftel bezeichnen die Wirtschafts- und Sozialordnung als ungerecht und deshalb als reformbedürftig. Eine ostdeutsche Identitätskonstruktion als Pendant zu der seit langem bestehenden westdeutschen ist im vollen Gange. Dabei handelt es sich weniger um DDR-Nostalgie als vielmehr um "Selbstermächtigung".
Wie nun mit diesen Dualismus umgehen? Hinter den Kulissen zeigen sich gerade die Parteien - aber nicht nur sie - verunsichert. Ein öffentlicher, kritischer Vereinigungsdiskurs findet kaum statt. Die Chance, die 1998 mit der Aufkündigung des 1990 zwischen den Ostdeutschen und Helmut Kohl geschlossenen Gesellschaftsvertrags und dem folgenden Regierungswechsel entstand, wurde durch Rot-Grün nicht genutzt, ja verspielt.
Dabei ist das deutsche Einheits- und ostdeutsche Transformationsprojekt weder gelungen noch gescheitert, sondern unvollendet, gespalten und insofern in manchem auch offen. Der strukturelle Aufbau Ost als schlichter Nachbau West ist blockiert. Und kulturell-mentale Anpassung ist auf Dauer kein positives Lebensziel. Das alte, einflussreiche konservative Leitbild der Einheit ist so in die Krise geraten. Doch wie wir schon aus der Geschichte des Sozialismus wissen, werden ideologisch begründete Leitbilder, auch wenn sie überlebt sind, von ihren Trägern nur ungern revidiert. So auch heute. Neue Leitbilder oder Visionen gar sind schwer auszumachen. Die Antwort darauf lautet m. E. nun nicht, wie auch diskutiert, Modelle getrennter Ost-West-Entwicklung in der Bundesrepublik zu präferieren. Erforderlich sind vielmehr ein konstruktiver Umgang mit dem Dualismus, neue Integrationskonzepte und damit gemeinsame Reformprojekte für die gesamtdeutsche Bundesrepublik. Denn anders als 89/90 im politischen und sozialwissenschaftlichen Mainstream angenommen, sieht sich heute die Bundesrepublik als Ganzes einem enormen Wandlungsdruck ausgesetzt. Erforderlich scheint sogleich für den Osten eine "Doppelstrategie": gesamtdeutsche Reformpolitiken und neue Ideen, ja ein politisches Gesamtkonzept für den weiteren Aufbau Ost. Ohne Fortführung der Transferleistungen von etwa fünf Prozent des Bruttosozialprodukts und ohne eine nun endlich effiziente Wirtschaftsförderung wären die Einbußen bei Produktion und Beschäftigung im Osten derart, dass sie auch stark negative Effekte für den Westen hätten. Im Kern jedoch geht es in den neuen Bundesländern um neue, praktikable Wege für eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung und Beschäftigung, für regionale Entwicklungspfade, für eine politischen Öffentlichkeit mit gesamtdeutscher Relevanz.
Die positive "Wendung" der ostdeutschen Themen - Arbeit, Gerechtigkeit, Anerkennung - als gesamtdeutsche Reformthemen machte die ostdeutschen Akteure dann nicht länger zu Bittstellern oder Mahnern, sondern zu Interessenvertretern, Reformern und Modernisierern der Bundesrepublik insgesamt.
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