Staub

D. sammelte Staubbilder. Er verfertigte sie auch, wenn man das Auslegen von Glasscheiben an ausgewählten Plätzen so nennen will. Jeden weitergehenden ...

D. sammelte Staubbilder. Er verfertigte sie auch, wenn man das Auslegen von Glasscheiben an ausgewählten Plätzen so nennen will. Jeden weitergehenden Eingriff in den Entstehungsprozess seiner Werke verbot sich der Sammler, dessen schöpferische Leistung vor allem darin lag zu entscheiden, wann ein Bild fertig war und vor dem Verstauben bewahrt werden musste.

So mühelos die Produktion der Staubbilder vor sich ging, so schwierig gestaltete sich ihre Lagerung. D. hatte sich eigens ein Schranksystem anfertigen lassen, um die Bildplatten, mit ihrer flüchtigen Beschichtung nach oben, in einzeln abschließbaren Fächern aufzubewahren. Jedes Bild war auf Rollschienen montiert, so dass es zur Betrachtung nahezu erschütterungsfrei aus seinem Fach herausgezogen werden konnte. Der Raum war mit hochwirksamen Elektrofiltern ausgerüstet, an denen sich die elektrisch aufgeladenen Staubpartikel an speziellen Elektroden niederschlugen.

Besucher ließ D. nicht in sein Archiv, das selbstverständlich nur mit Overall, Schuhen und Staubmaske betreten werden durfte. Doch als eines Tages der Firmenchef eines großen Mikrochip-Herstellers Interesse an der Sammlung bekundete und um einen Besichtigungstermin bat, machte D. eine Ausnahme. Zum einen, weil er davon ausgehen konnte, dass sein Besucher sich in staubfreien Räumen angemessen zu bewegen wusste. Zum anderen, weil er in ihm einen verwandten Geist vermutete, auch wenn es in dessen Metier vor allem die Herstellung war, die staubfrei vor sich ging, und nicht die Lagerung des fertigen Produkts.

Der Besucher aus der Welt des Siliziums war überwältigt. Was ihm bisher als Gattungsname nur im Singular geläufig gewesen war, fächerte sich vor seinen Augen im fachsprachlichen Plural zu Stäuben verschiedenster Provenienz und Qualität auf, die als Titel alle ihre genauen Herkunftsbezeichnungen trugen: Aufzugsschacht in Bürogebäude, Heuboden über Pferdestall, Schornstein einer stillgelegten Ziegelei oder Hochsitz im Tannenwald.

D. ahnte, was in seinem Besucher vorging, und wies beiläufig, während er eines der frühesten Werke seiner Sammlung aus dem Schrank holte, darauf hin, dass die gewöhnliche Geringschätzung des Staubs nicht zuletzt auf die christliche Begräbnisformel zurückzuführen sei. Wie überrascht war er aber zu sehen, dass er zufällig jene Bildplatte mit der toten Fliege herauszog, deren Staubwerdung inzwischen so weit fortgeschritten war, dass der Fliegenkörper bei der geringsten Erschütterung oder dem leisesten Lufthauch seine Gestalt zu verlieren drohte. Die beiden Männer verharrten andächtig vor diesem Nachbild des Lebens und hielten unwillkürlich den Atem an, bis der delikate Staub wieder sicher in seinem Fach verstaut war.

Der Chiphersteller erzählte, er sei ursprünglich mit der Absicht hergekommen, ein Staubbild für sein Büro zu erwerben. Als besonderen Gag, wie er eingestand. Doch derart hochkomplexe Konfigurationen von Staubpartikeln, wie man sie gerade zu sehen bekommen habe, seien natürlich nicht transportfähig. Abgesehen davon dürfe dieses einzigartige Archiv auf keinen Fall auseinander gerissen werden.

D. nickte. Doch verspürte er zugleich einen leisen Stich der Enttäuschung, der offenbar daher rührte, dass er sich insgeheim Hoffnungen auf den Verkauf eines Staubbildes gemacht hatte. Weniger aus kommerziellen Gründen, denn er verfügte über eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit. Eher war ihm an der Anerkennung gelegen, die seiner Sammlung zuwachsen würde, wenn das eine oder andere Stück an prominenter Stelle zu bewundern wäre.

Wirklich schade, sagte der Chiphersteller mit ehrlichem Bedauern, während sie im Vorraum ihre Schutzkleidung auszogen. Doch die Staubbilder seien nun einmal Werke für den Tresor.

Dann solle er sich doch bei ihm ein Schließfach mieten!

Der Chiphersteller stutzte einen Augenblick lang, dann hatte er begriffen. Um mit Geschäftsfreunden herzukommen, fügte er hinzu, mehr zu sich selbst als zu D. gesprochen, dem klar wurde, was für eine brillante Idee es war, den cleanen Freunden des Siliziums genau das anzubieten, was sie von Berufs wegen mieden wie der Teufel das Weihwasser.

Über den Kaufpreis für das Staubbild mit der Fliege samt Miete für das Schließfach hatte man sich bald geeinigt. Was die praktische Seite anging, regte der Chiphersteller an, sich ein Beispiel an den Banken zu nehmen, deren Schließfächer aus Sicherheitsgründen auch nur mit zwei Schlüsseln zu öffnen waren, einer vom Kunden und einer von der Bank.

Dass der Einbau von Doppelschlössern in die insgesamt 64 Fächer des Archivs fast den gesamten Erlös des einen Staubbildes verschlang, betrachtete D. als Investition, die sich über kurz oder lang auszahlen musste. Jeder Geschäftsfreund, den der Chiphersteller mitbrächte, um sich im gewohnt staubfreien Milieu am verpönten Staub zu ergötzen, zählte schließlich zu seinen potentiellen Kunden.

D. hatte sich nicht verkalkuliert. Kein halbes Jahr später waren mehr als zwei Dutzend Bilder verkauft und es kam bisweilen zu Terminkollisionen, denn selbstverständlich wollte jeder mit seinem Staub allein sein. Auch D. bekam die verkauften Werke kaum noch zu Gesicht. Ganz selten nur gelang es ihm, einen flüchtigen Blick etwa auf die Fliege zu erhaschen oder auf ein anderes Staubbild, das seinen Liebhaber gefunden hatte. In der Regel verhielten sich die Schließfachbesitzer als wären sie im Allerheiligsten einer Bank, wo man seine Wertsachen auch erst dem Depot entnimmt, nachdem der Schließer den Raum verlassen hat. Wenn D. nicht zum reinen Angestellten in seinem eigenen Archiv werden wollte, musste er die Preise erhöhen. Und zwar drastisch, denn er hätte weit mehr Bilder verkaufen können, als mit der gebotenen Sorgfalt herzustellen waren.

Wie jede erfolgreiche Idee fanden auch die Staubbilder ihre Nachahmer. Eine Entwicklung, die D. eher amüsierte, als dass er sich ärgerte über die billigen Plagiate. Schneller Staub, künstlich aufgewirbelt, der sich zu Bildresultaten niederschlug, die bestenfalls als monochrom zu bezeichnen waren. In keiner Weise vergleichbar mit seinen lang gereiften Kompositionen sedimentierter Zeit, wie es ein Kritiker ausdrückte.

Wer sich glücklich schätzen konnte, ein Original zu besitzen, behielt es ganz für sich. So auch D.´s erster Käufer, der Mikrochip-Hersteller, der seine Fliege schon längst nicht mehr herzeigte, und auch sich selbst nur noch in immer größeren Abständen erlaubte, die staubgeborene Kreatur zu betrachten, die so lange nach ihrem Tod der Vergänglichkeit trotzte. Der sprichwörtliche Flügelschlag eines Schmetterlings in China, der genügte, um alles zunichte zu machen, hing als postmortales Memento mori über dem Archiv, das viele Schließfachbesitzer nur noch zum Zwecke der geistigen Sammlung aufsuchten.

Da die Kapazität des Archivs bald erschöpft war und ein Ausbau grundsätzlich nicht in Frage kam, ging D. bei der Auswahl neuer Staubbilder mit der allergrößten Sorgfalt vor. Es musste sich schon um Ausnahmestäube handeln, wie etwa die rostroten Flocken, die infolge eines Chemieunfall in einer Werkssiedlung niedergegangen waren, oder den Mehlstaub einer Bockwindmühle eines Freilichtmuseums, in der zu Demonstrationszwecken regelmäßig gemahlen wurde. Auch die Sprengung eines Weltkriegsbunkers nutzte D., um in wenigen Stunden eine dicke Schicht historischen Staubs einzufangen. Krönung der Sammlung war aber, einmal von der Fliege abgesehen, eine Handvoll Aschenregen, die ein Bekannter, der sich beim jüngsten Ausbruch des Pinatobu in Indonesien aufgehalten hatte, als Souvenir mitbrachte.

Gern hätte D. seine Sammlung mit dem vulkanischen Staub abgeschlossen, doch gehörte der nun einmal in das 63. und somit vorletzte Schließfach. Den Gedanken, die natürliche Reihenfolge zu durchbrechen, verwarf er sofort wieder, denn das wäre ihm wie ein Verrat an seiner Arbeit vorgekommen. So blieb das letzte Fach leer, um Platz zu haben für Mondstaub, wie D. anfangs im Scherz sagte. Doch als man ihn immer häufiger drängte, das Fach, so wie es war, zu vermieten oder wenigstens einmal zu öffnen, um zu sehen, was in einem staubfreien Archiv doch an Staub anfiel, blieb er dabei: Nur für Mondstaub!


Nicht dass D. etwas gegen Diskretion hatte, die unausgesprochen von ihm verlangt wurde ...

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