Viele sind enttäuscht von der Wissenschaft

enttäuscht Wissenschaft? Bemerkungen und Ergänzungen/Kritik zum autoritären Charakter und der sog. komplexen Gesellschaft, der die Menschen verunsichert.

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Im Interview wird gesagt, dass das Verhältnis der Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, „Querdenker“ etc. zur Autorität zwiespältig ist: einerseits suchen diese Menschen eine Autorität, andererseits müssen sie ihre eigene Bedürfnisse unterdrücken und richten dann ihre dadurch entwickelten Aggressionen gegen andere, meist Schwache, die sich nicht wehren können. Vorausgesetzt ist bei dem autoritären Charakter ein in der Entwicklung der Menschen zurückgebliebenes Bewußtsein, „weil sie sich nicht haben entwickeln können“ (Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute), deshalb richten sie ihre Wut, ihren Hass auf alles was ihnen Fremd ist: Bildung, Wissenschaft, Geist, Intellektuelle, kurz alles, von dem sie ausgeschlossen sind. Zugleich ist ihr Widerstand „pseudorebellisch“ nach dem Muster: „da-muß-doch-endlich-was-geschehen-, da-muß doch-endlich-mal-Ordnung-geschaffen-werden“; zugleich sind sie aber bereit, „vor den Trägern wirklicher Macht, der ökonomischen oder welcher auch immer, sich zu ducken und es mit ihr zu halten“ (Adorno). Sie können nicht von der Wissenschaft enttäuscht sein, denn sie haben kein Verhältnis irgendwelcher Art zu ihr, sie sind – durch die Erziehung, Bildung – von ihr ausgeschlossen worden. Diese Menschen „fühlen sich abgehängt“, ja, und zwar in jeder Hinsicht: ökonomisch degradiert und von der Bildung/Wissenschaft ausgeschlossen.

Franz Neumann (ein Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung) hat in einem Essay „Angst und Politik“ (1954) auf die Entstehung von Verschwörertheorien darauf hingewiesen, die möglich ist, „... wenn die Situation von Massen objektiv gefährdet ist, wenn die Massen unfähig sind, den historischen Prozeß zu verstehen, und wenn die durch die Gefahr aktivierte Angst durch Manipulation zur neurotischen Verfolgungsangst wird“. Dazu gehört noch die „falsche Konkretheit“ (so Neumann), d.h. ein Geschichtsbild, das „niemals ganz falsch ist, sondern immer ein Körnchen Wahrheit enthält und auch enthalten muß, um überzeugend zu wirken“.

Die Äußerung im Interview: „Es ist autoritär, die Komplexität einer Pandemie, der Gesellschaft und der Politik nicht anzuerkennen“ ist in doppelter Hinsicht nicht richtig. Zum einen „ist die Gesellschaft, durch den Wegfall ungezählter, auf den Markt zurückweisenden Mechanismen, durch die Beseitigung des blinden Kräftespiels in breiten Sektoren, durchsichtiger als je zuvor“ (Adorno: Theorie der Halbbildung) und zum anderen ist es nicht die „Komplexität, sondern die Entfremdung, die die psychotischen Formen der Reaktion auf Gesellschaftliches schafft“ (Adorno).

Auch die Aussage „das Gefühl der Ohnmacht … wird durch gesellschaftliche Begebenheiten ausgelöst“ ist eine Verschleierung, denn die Ohnmacht des Menschen in unserer Gesellschaft ist real, dies hat Adorno an vielen Stellen immer wieder thematisiert. „Die einzige Forderung wohl, die ohne Unverschämtheit erhoben werden darf, wäre die, daß der ohnmächtige Einzelne durchs Bewußtsein der eigenen Ohnmacht doch seiner selbst mächtig bleibe“ (in: Individuum und Organisation)

Ein Trostpflaster für alle die alles beim alten lassen wollen aber einen religiösen Schutzschirm haben wollen: „es würde helfen die soziale Ungleichheit zu verkleinern“.

Neugierig wäre ich zu erfahren, was als Ergebnis der im Interview genannten Studien herausgekommen ist: sind es neue, andere Erfahrungen gegenüber den Studien zum autoritären Charakter oder wiederholen sich mehr oder weniger die Erfahrungen aus den 30-/40-iger Jahren?

Sehr erfreulich ist es, in dem Interview zu hören, dass auf die Studien des autoritären Charakters zurückgegriffen wird und darauf aufbauend heute weiterentwickelt wurde, angewandt wird um den Querdenkern und Verschwörer

Adorno hat dies aufs knappste zusammengefaßt, es so formuliert: „... es müßte erklärt werden, wieso heutige Menschen in Verhaltensformen zurückfallen, die zu ihrem eigenen rationalen Niveau und der gegenwärtigen Stufe aufgeklärter technischer Zivilisation in krassem Widerspruch stehen“ (in: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda).

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